- Drei Preise räumte Sibel Polat beim Kölner Theaterpreis ab.
- Mit vier Jahren war sie aus der Türkei nach Deutschland gekommen.
- Bernd Imgrund sprach mit Polat über Aleviten, Kuchen und Tatort-Kommissare.
10 Uhr sei ein bisschen früh für ein Interview, sagt Sibel Polat am Telefon. Kein Problem, dann treffen wir uns eben ganz ausgeschlafen um 11.
Sie stammen aus Mersin in der Türkei. Was ist das für eine Stadt?
Sibel Polat: Ein idyllischer Ort am Meer, ein Postkartenidyll. Zudem eine recht junge und moderne Stadt, in der viele Kurden leben.
Sind Sie von dort geflohen oder emigriert?
Beides. Unsere Auswanderung war als Urlaub getarnt. Meine Eltern haben kurdisch-alevitische Wurzeln, was − heute wieder – in der Türkei viele Probleme mit sich bringt.
Zum Beispiel?
Die kurdische Sprache war verboten, meine Brüder wurden gezwungen, muslimisch zu beten, und sie wurden an der Schule für alles mögliche verprügelt – damals gab es noch die Prügelstrafe.
Was sind Aleviten?
Das ist eine Kultur- und Religionsgemeinschaft, die sich aus dem Islam entwickelt hat. Ihre Auffassungen sind sehr liberal, zum Beispiel gelten Männer und Frauen als gleichberechtigt. Manche sehen sich als Muslime, manche als Christen – ein ziemliches Durcheinander. (lacht)
Wann waren Sie das letzte Mal in Ihrer alten Heimat?
Als ich 17 war, mit der Familie. Aber inzwischen wäre das viel zu gefährlich.
Bei den Aleviten spiele Musik eine große Rolle, liest man. Eine erste Parallele zu Köln?
Meine Eltern sind sehr gläubig, aber ich bin da ein bisschen raus. Trotzdem ist Musik bei uns sehr wichtig, man denke nur an die Bağlama, die türkische Laute. Mir fällt dazu allerdings direkt das Sivas-Massaker von 1993 ein, bei dem 37 alevitische Künstler während eines Festivals von einem faschistisch-islamistischen Mob getötet wurden.
Mit dem Jungen Ensemble Stuttgart haben Sie die Geschichte des Jesus von Nazareth auf die Bühne gebracht. Was war Ihre Rolle?
Ich war Immanuel, was der hebräische Name für Jesus ist. Fand ich ziemlich cool! Er und seine Freunde wehren sich gegen die römischen Besatzer. Immanuel ist recht naiv und wird zwischenzeitlich zum Superhelden überhöht. Erst am Ende merken seine Jünger, dass sie keinen Anführer brauchen.
Haben Sie dabei etwas gelernt über Religion?
Es war spannend, die Bibel mal wie ein Tagebuch der Menschheit zu lesen, also das Mystische wegzulassen und die menschlichen Geschichten herauszufiltern.
Parallel zur Schauspiel- haben Sie eine Clown-Ausbildung gemacht.
Der Clown ist für einen Schauspieler die Königsdisziplin, die habe ich noch lange nicht geknackt. Man hat nur wenige Mittel zur Verfügung und bleibt sehr klein, muss aber zugleich extrem genau sein mit jedem Blick, jeder Geste.
Was macht einen Clown aus?
Er ist ein guter Beobachter und soll so wirken, als denke er nicht viel nach, sondern vertraue komplett auf seine Intuition. Ich habe vor Kindern mal den Clown gespielt, es war der absolute Horror.
Fanden die Sie etwa nicht lustig?
Überhaupt nicht! Aber vor Erwachsenen ist es mir dann leichter gefallen. Ich lerne dazu.
Beim Kölner Theaterpreis 2019 wurden Sie ausgezeichnet als beste Darstellerin, bestes Ensemblemitglied und für das beste Stück. Sind Sie so etwas wie die Meryl Streep vom Rhein?
(lacht) Der Titel gefällt mir. Ich habe mich sehr geehrt gefühlt an dem Abend, und über das Geld habe ich mich natürlich auch gefreut.
Das haben Sie zu drei Prozent angelegt, nehme ich an.
Ich hab’s tatsächlich gespart, weil man in unserer Branche halt sehr unsicher lebt. Aber einen leckeren Kuchen war ich auch essen, das ist meine Art von Belohnung.
Wurden Sie danach von Angeboten überschwemmt und arbeiten demnächst als Tatort-Kommissarin?
So wild war das nicht. Die Häuser, an denen ich eh arbeite, befürchteten das wohl auch, die haben mich früh angefragt.
Würden Sie eine Tatort-Rolle annehmen?
Der erste Tatort, den ich gesehen habe, war ein experimenteller mit Ulrich Tukur. Danach dachte ich, die sind alle so. (lacht) Aber ja, ich stelle mir Dreharbeiten sehr spannend vor. Außerdem denke ich, das deutsche Fernsehen darf ruhig noch diverser werden und mehr Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigen.
Zur Person
Sibel Polat wurde 1986 in Mersin in der Türkei als Tochter kurdisch-alevitischer Eltern geboren. Mit vier Jahren kam sie nach Deutschland. 2006 bis 2010 absolvierte sie ein Studium an der Arturo Schauspielschule in Köln. Parallel dazu besuchte sie einen vierjährigen Film-Workshop sowie 2009 ein Clown-Seminar.
Zur Spielzeit 2011/12 ging sie für drei Jahre als Ensemblemitglied ans Junge Theater Heidelberg, bevor sie nach Köln zurückkehrte. Auf der Bühne der Comedia in der Südstadt stand sie erstmals 2013, seitdem hat sie dort eine feste Heimat gefunden und in zahlreichen Kindertheaterstücken mitgewirkt.
2019 räumte sie beim Kölner Theaterpreis ab. Sie wurde ausgezeichnet als beste Schauspielerin, bestes Ensemblemitglied sowie als Mitwirkende im besten Stück der Saison.
Sibel Polat lebt in Ehrenfeld.
www.comedia-koeln.de
In der Laudatio hieß es: „Sie gestaltet ihre Rollen aktiv mit und ist keine Diva.“ Widerspricht sich das nicht im Sinne von: Sie redet der Regie immer rein?
Bestimmt nerve ich manchmal, aber mein Humor und die aufgedrehte Art kommen ganz gut an. Diven sind egozentrisch, während ich immer das ganze Ensemble im Auge habe. Aber ich möchte natürlich auch mitsprechen können bei der Entwicklung meiner Rolle und nicht nur gesagt bekommen, wie ich von A nach B zu laufen habe.
Dann wird das mit dem Fernsehen aber eher nichts.
(lacht) Ich müsste da auf jeden Fall ganz andere Kompromisse eingehen.
Kindertheater-Schauspieler gelten manchen als gescheitert. Wie erklären Sie sich solch ein Urteil?
Das rührt von längst überholten Sichtweisen her. Kinder- und Jugendtheater wird noch immer deutlich schlechter bezahlt. Aber ich denke, die Stücke und Inszenierungen sind heutzutage auf einem ganz anderen Niveau als, sagen wir, noch nach dem Krieg. Ich schaue mir auch viele Erwachsenenstücke an, aber die modernsten Inszenierungen habe ich in den letzten Jahren im Kindertheater gesehen.
Ist Kindertheater multikulturell?
Unsere Schauspieler kommen aus allen möglichen Ecken der Welt. An der Comedia entwickeln wir viele Stücke neu und greifen nicht auf den alten Fundus zurück. Mit einigen Klassikern tue ich mich in Hinsicht auf Geschlechterrollen und Diversifikation echt schwer. Das gilt für manche Shakespearestücke genauso wie für Jim Knopf.
Da kann man doch wunderbar über Hautfarben, Blackfacing und Ähnliches diskutieren.
Ja, schon, aber es geht eben auch oft hochgradig emotional zu. Und dann ist schnell der Punkt erreicht, an dem alle blockieren und es nicht mehr weitergeht.
Warum Kindertheater? Kinder in größeren Gruppen sind doch total nervig, und lange konzentrieren können die sich heutzutage sowieso nicht mehr.
Kann ich sogar verstehen, wenn sie morgens um 9.30 Uhr in eine Vorstellung gekarrt werden. Da bin ja noch nicht mal ich richtig wach. Außerdem ist die Art mancher Lehrer wirklich unter aller Sau. Von Anfang an schlecht gelaunt und motzig. Und trotzdem: Wenn ich dann voll drin bin in meiner Rolle, dann kriege ich jede Gruppe leise. Und das ist immer wieder das Größte für einen Schauspieler.
Wie oft klingeln eigentlich Handys in solchen Vorstellungen?
Relativ oft. Aber lustigerweise sind es viel häufiger die der Lehrer und erwachsenen Begleiter als die der Schüler.
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Sie spielen meist in der Comedia, also in der Südstadt mit ihrer recht durchgentrifizierten Anwohnerschaft.
Die kommt eher in die Wochenendvorstellungen im freien Verkauf. Aber wir haben hier auch Schulklassen aus Kalk oder Porz. Die sind theaterferner aufgewachsen und zunächst etwas vorsichtiger und ängstlicher. Aber dafür machen sie die schönere, tiefere Erfahrung. Ist immer ganz toll, wenn so etwas kommt wie: Das ist ja wie Fernsehen hier, wann gibt’s die nächste Folge? (lacht)
Sie reden wie jemand, der früher oder später Regie führen muss.
Klar, das wäre noch einmal eine ganz andere künstlerische Herausforderung. Ich könnte meine eigenen Visionen umsetzen. Und natürlich wäre es auch cool, mit einem Megaphon im Zuschauerraum zu sitzen und den Schauspielern zu sagen, was zu tun ist.
Was würden Sie in Ihrer Geburtsstadt Mersin gerne einmal aufführen?
Vor allem ein Stück komplett auf Kurdisch! Bei dem in jeder Szene die kurdische Flagge gezeigt wird – ich weiß, das klingt jetzt total populistisch. (lacht)
Aber man ist ja auch sauer auf Herrn Erdoğan und sein Regime.
Genau, sehr sauer! Am liebsten würde ich dort die Geschichte meiner Familie erzählen, um zu zeigen, was in der Türkei alles schiefgelaufen ist und noch immer schiefläuft.