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Interview

Kölner Linienrichter Hüwe
„Auf dem Platz ist man der Chef“

Lesezeit 9 Minuten
Philipp Hüwe

Philipp Hüwe

Philipp Hüwe ist Hauptkommissar und Linienrichter in der Fußball-Bundesliga Bernd Imgrund sprach mit ihm über Sekundenentscheidungen, Respekt und das Handspiel von Cucurella bei der EM

Wo steht die DJK Coesfeld zur Winterpause?

Auf dem letzten Platz in der Landesliga. Die sind froh, dass sie letztes Jahr aufgestiegen sind, da hat keiner mit gerechnet. Und jetzt nehmen sie das einfach mit.

Sind Sie als gebürtiger Coesfelder FC-Fan?

Nee, ich bin gar kein Fan. Das Ergebnis eines Spiels interessiert mich nicht. Wenn man weiß, das könnte ein brisantes Match werden, bereitet man sich sicher intensiver vor. Aber sonst juckt mich das wirklich nicht.

Heute ist es kalt, und es regnet in Strömen. Wie ist es, an so einem Tag an der Linie zu stehen?

Wir sind dick eingepackt, aber manchmal friert man schon. Vor allem, wenn eine Mannschaft richtig gut ist. Dann stehst unter Umständen eine Hälfte nur an der Mittellinie rum.

Wann hatten Sie zuletzt so ein Fritz-Walter-Wetter?

Wo Sie Fritz Walter erwähnen: In Kaiserslautern standen wir mal kurz davor, das Spiel abzusagen, weil so viel Schnee lag. Freiwillige haben den Platz dann noch rechtzeitig geräumt.

Zur Funktionskleidung kommt heutzutage die Verkabelung der Schiedsrichter.

Der Schiedsrichter und die beiden Assistenten stehen im Dauerfunk. Auf Knopfdruck sind wir zudem mit dem Vierten Offiziellen und dem Kölner Keller verbunden.

Nicht jeder Spieler ist einem sympathisch. Wie bleibt man da objektiv?

Wir versuchen, professionell zu bleiben. Wenn man sich gegenseitig respektiert, kann man auch schonmal sagen: Jetzt hör auf, sonst gibt es gleich Gelb. Wenn einer hingegen immer nur meckert, bekommt er den Hinweis vielleicht auch mal nicht. (grinst)

Woran erkennen Sie mangelnden Respekt?

In den unteren Ligen gibt es Spieler, die sich von den Referees nichts sagen lassen: Du gehörst zwar zum Spiel, aber nicht für mich. Die reden nicht mit einem und geben dir hinterher nicht die Hand. In der Bundesliga wissen sie unsere Leistung eher zu schätzen.

Gibt es weitere Unterschiede zwischen Amateur- und Profisport?

Im Amateurbereich ist alles viel direkter, die Zuschauer stehen hinter dir, du bist ungeschützt. Ich ziehe meinen Hut vor den Kollegen, die drei bis viermal pro Wochenende auf einem Aschenplatz irgendwo in der Provinz pfeifen.

Häufig müssen die Schiris dort ohne Linienrichter auskommen.

So ging es mir ja früher auch, das ist brutal schwer. Gerade was Abseits angeht, hast du gar keine Chance. Das ist eher ein Ratespiel.

Welche Schmähung lassen Sie gerade noch durchgehen, bevor Sie dem Schiri eine Verwarnung empfehlen? Wie sieht es etwa mit „Du Blinder“ aus?

Das sind meist Floskeln, über die ich normalerweise hinweghöre. Aber wenn es penetrant wird, muss eine Karte her. Welche, das bestimmt dann der Schiedsrichter. Bei Beleidigungen geht aber nur die Rote!

Sie haben mit 15 Jahren als Schiri angefangen. Lag das schon als kleines Kind in Ihrer Persönlichkeit?

Ich war früher eher eine Heulsuse. Sobald mich einer beleidigt hat, habe ich angefangen zu weinen. Das Schiedsrichterwesen hat mir geholfen, meine Persönlichkeit zu entwickeln. Man lernt, sich durchzusetzen, schon als junger Mensch alleine Entscheidungen zu treffen. Auf dem Platz ist man der Chef, und das prägt einen. Wäre ich nicht Schiri geworden, wäre ich auch nicht bei der Polizei gelandet.

Warum inzwischen Linie statt Feld?

Fehlendes Talent. Ich habe bis zur Regionalliga gepfiffen und bin nie in die dritte Liga aufgestiegen. Als Assistent an der Seite aber schon. Und dann war ich in der dritten Liga der Beste, und es ging weiter nach oben. Jetzt habe ich mich spezialisiert. Ich sage immer: Aus Manuel Neuer wird auch kein Mittelstürmer mehr.

Welche speziellen Fähigkeiten muss ein Linienrichter haben?

Unsere Hauptaufgabe sind die Abseitsentscheidungen. Man muss wissen, wo sich der jeweilige Spieler im Moment der Ballabgabe befunden hat. Es gehören Fitness und Schnelligkeit dazu, immer auf der richtigen Höhe zu sein.

Warum hat das Schiedsrichterwesen Nachwuchsprobleme, und wie könnte man die beheben?

In den unteren Ligen ist das ein Ehrenamt, in dem man immer mehr Anfeindungen erlebt. Das hat nichts damit zu tun, ob wir besser oder schlechter pfeifen, sondern ist ein gesellschaftliches Problem. Vielleicht sollten alle Trainer, auch die Spieler, mal einen Schiri-Lehrgang machen. Wenn die an der eigenen Haut erfahren, wie es ist, angemeckert und angegriffen zu werden, entwickeln sie wahrscheinlich ein bisschen mehr Respekt vor dieser Aufgabe.

Ist Ihnen mal ein Spiel eskaliert?

Regionalliga, ein Freitagabend: Rot Weiß Essen gegen den SV Rödinghausen. Da habe ich zwei Strafstöße gegen Essen gepfiffen, und die Folge war eine zehnminütige Spielunterbrechung. Essener Fans haben versucht, den Platz zu stürmen, da flogen auch Gegenstände aufs Feld. Das hat im Fußball nichts zu suchen, klarer Fall.

Hatten Sie Angst?

Nein, dafür stand ich zu sehr unter Adrenalin. In so einem Moment ist es wie bei der Polizei: Man funktioniert dann einfach und zieht das durch. Im Nachgang muss man allerdings manchmal sagen, das hätte auch anders ausgehen können.

Waren die Elfer berechtigt?

Natürlich! (lacht) Nach dem Spiel habe ich meine beste Note bekommen. Der offizielle Beobachter war total begeistert von meiner Leistung.

Dienen Sie als Polizei-Pressesprecher der Polizei oder der Öffentlichkeit?

Beiden. Wir haben den Medien gegenüber eine Auskunftspflicht. Gleichzeitig besteht durch transparente Pressearbeit aber auch die Chance, gute Polizeiarbeit zu vermitteln und zu erklären. Wir überlassen das Spielfeld nicht denen, die gerne nur ihre Sicht der Dinge darstellen. Quasi wie als Schiedsrichter (lacht).

Sie haben mal ein Spiel gepfiffen und am selben Abend die Personalien eines der Spieler kontrolliert.

Als ich noch auf der Wache Ehrenfeld war, habe ich auch bei der „Ordnungspartnerschaft Ringe“ mitgearbeitet. Da gab es diese laut grölende Personengruppe, die wir kontrolliert haben. Die waren einfach gut drauf, und es war ganz witzig, als rauskam, dass ich mit dem einen Mann noch mittags auf dem selben Platz gestanden hatte.

Ihre eigene Fußballkarriere endete mit 19. Wieso?

Mir wurde klar, dass mein Talent als Schiedsrichter doch wesentlich größer ist.

Sie haben im linken Mittelfeld gespielt. Was war das Highlight Ihrer Karriere?

Ein Spiel gegen Vorwärts Lette, Ortsderby. Danach sollte es neue Trainingsanzüge geben, ich wollte unbedingt einen von Adidas. Ich hatte schon drei Tore gemacht, als mein Trainer zu meiner Mama sagte: Wenn der noch das vierte schießt, kriegt er aber den Adidas-Anzug! Und so kam es, ich habe nochmal getroffen.

Das Spiel ging nicht 4 zu 5 aus, hoffe ich.

8 zu 0.

Wie fühlt es sich an, in ein proppenvolles Stadion einzulaufen?

Das ist immer wieder ein Gänsehautmoment. Ich sage mir, Boah, das ist hier die Bundesliga. Als Kind hat man in der Sportschau seinen Idolen zugeschaut, und jetzt ist man selbst dabei!

Wie laut ist es, sagen wir mal, in Dortmund, wenn da 80 000 Leute ihre Mannschaft anfeuern?

Ich war bei dem Spiel 2022 gegen Bremen dabei. Dortmund hat bis zur 90. Minute 2:0 geführt und dann noch drei Tore kassiert. Da war vorher Granatenstimmung. Und dann war plötzlich alles vorbei.

Sie trainieren auf dem Platz des BC Efferen. Was trainieren Sie?

Ich arbeite in High-Intensity-Einheiten: Sprint, Ausdauerfähigkeit und Fahnentechnik. Das heißt, ich bin alleine auf dem Platz und renne mit der Fahne in der Hand die Linie rauf und runter. (lacht)

Fahnentechnik?

Die Fahne ist zum Beispiel immer zum Feld hin gerichtet. Wenn ich in Richtung Mittellinie laufe, ist sie in der rechten Hand. Wenn ich zur Eckfahne laufe, ist sie links. Bei einem Abseits muss ich die Fahne erst in die rechte Hand geben, um dann Abseits anzuzeigen. Auch beim Eckstoß haben wir Vorgaben, wie die Fahne zu halten ist.

Was passiert zwischen Kopf und Fahnenarm bei einem Abseits?

Beim Übergeben der Fahne von links nach rechts gewinnt man ein paar Millisekunden, um die Situation noch einmal durchzuspielen im Kopf: War es jetzt abseits oder nicht? Wir gehen auch nach Mustern vor: Wenn der Stürmer dem Ball entgegenläuft, aus dem Abseits raus, hat er in neun von zehn Fällen im Abseits gestanden. Wenn er parallel läuft, ist die Wahrscheinlichkeit genau andersherum. In der Bundesliga und der Zweiten Liga haben wir zudem den Riesenvorteil des VAC.

Verstehen Sie die aktuellen Handspiel-Regeln?

Die sind eigentlich recht simpel. Wenn die Hand oder der Arm aktiv zum Ball geht, ist es Hand. Wenn der Arm dazu dient, die Körperfläche zu vergrößern, um den Ball abzuwehren, ist es auch Hand. Und wenn es zweifelhaft wird: War die Entscheidung so klar falsch, dass das VAC eingreifen muss? Genau da liegt der Schnittpunkt, an dem es zu Reibereien kommt. Zudem gibt es eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Schiris auf dem Platz und der des Zuschauers, der mit zwei Bier auf der Couch sitzt und die Szene fünf Mal in Superzeitlupe sieht.

Ihre Meinung zum Handspiel von Cucurella bei der EM 2024?

Klar Hand, da gibt es keine zwei Meinungen.

Ärgern Sie sich, wenn der Kölner Keller eine Ihrer Entscheidungen korrigiert?

Allerdings! Ich versuche mein Bestes zu geben, und schaue mir meine Spiele nachher noch einmal komplett an. Man lernt am besten aus den eigenen Fehlern.

Wird die Elektronik die Linienrichter irgendwann überflüssig machen?

Ich hoffe und glaube das nicht. Es ist ja nicht so, dass unser Job nur aus Abseits besteht. Wir ergänzen auch den Schiedsrichter, weil wir je nach dem eine bessere Sicht auf eine Situation haben.

Sie fungieren auch als Vierter Offizieller. Es gibt Trainer, die labern 90 Minuten auf den ein, obwohl sie genau wissen, dass das absolut keinen Effekt hat.

(lacht) Das stimmt. Zum Glück stehen zwischen den Trainerbänken die TV-Kameras. Wenn einer allzu penetrant auf mich einredet, stelle ich mich gern auf die andere Seite.

Schiedsrichtergespanne treten nach Möglichkeit als festes Trio auf. Was sind die Vorteile?

Dass man sich kennt. Wenn ich bei Flo (Florian Badstübner, BL-Schiri) „Foul“ rufe, erkennt er an meinem Tonfall, ob das mehr eine Empfehlung oder ein eindeutiges Foul war. Auch Marcus (Schüller, Erster Assistent/Linienrichter von Badstübner) ist ein super Typ. Mit solchen Jungs zu arbeiten, macht das ganze Wochenende angenehmer.

Klatschen sich auch Schiris nach dem Spiel ab und fühlen sich wie ein Team, das eine Leistung abgeliefert hat?

Ein klares Ja! Man merkt schon während des Spiels, ob es gut läuft. Spätestens in der Kabine nehmen wir uns dann in den Arm und klatschen uns ab.

Haben Sie danach dann auch schonmal eine Fahne gehabt?

(lacht) Nach einem guten Spiel trinken wir auch mal ein Bier, ja.

Haben Sie das Fernziel, auch mal international zu pfeifen?

Ja, das wäre schön. Mein Schiedsrichter, Florian Badstübner, pfeift seit Januar international für die FIFA. Wenn es gut läuft, kann ich bei ihm mal mitfahren. Jenseits dessen muss ich mit Leistung überzeugen. Zwei waren jetzt vor mir dran, ich muss so hart arbeiten, dass man an mir nicht mehr vorbeikommt. Aber auch die Bundesliga ist großartig.