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Hendrik Wüst im Interview zur Flut„Unser Katastrophenschutz gehört auf den Prüfstand“

Lesezeit 4 Minuten
Hendrik Wüst im Interview Archiv

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst 

  1. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst über die Aufarbeitung der Katastrophe

Herr Ministerpräsident, welche Erinnerung haben Sie an die Flutnacht vom 14. Juli 2021?

Die Nacht, in der das Hochwasser nach Nordrhein-Westfalen kam, war ein Einschnitt in der Geschichte unseres Landes. Noch nie hat es eine solche Hochwasserkatastrophe gegeben. Die Nachrichten und Bilder aus den betroffenen Orten, die mich erreichten, sind mir sehr nahegegangen. In den Tagen darauf war ich selbst vor Ort und das Ausmaß der Zerstörung hat mich schockiert. (Anmerk. der Red.: Hendrik Wüst war zu dem Zeitpunkt NRW-Verkehrsminister).

Die Verluste, die Zerstörung und die Kraft, mit der die Natur dort gewütet hat – diese Bilder haben sich für immer in die Erinnerung gebrannt. Ich erinnere mich aber auch an die große Solidarität und Hilfsbereitschaft, die mich bis heute sehr beeindruckt und berührt. Menschen aus dem ganzen Land sind gekommen, haben angepackt, viele Menschen haben gespendet, um den Betroffenen zu helfen. Dieser Zusammenhalt in unserem Land macht mich sehr stolz.

Welche Konsequenzen waren nach der Katastrophe zwingend , um zum Beispiel Warnketten, Krisenkommunikation und Hochwasserschutz zu verbessern?

Wir haben gesehen, dass bestehende Strukturen und Abläufe im Katastrophenschutz auf den Prüfstand gehören. Wir wollen Probleme klar benennen und lösen, damit wir bei solchen Ereignissen in Zukunft besser gerüstet sind.

Die Opfer der Flut

Altenahr nach der Flut 

184 Menschen kamen bei der Flutkatastrophe vor einem Jahr bundesweit ums Leben. 135 im nördlichen Rheinland-Pfalz, 49 in Nordrhein-Westfalen. Im Ahrtal starben mindestens 134 Menschen, zwei Männer (22 und 60 Jahre) werden noch immer vermisst. 766 Menschen wurden verletzt. Besonders tragisch: In einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Sinzig ertranken zwölf Bewohner. Im Kreis Euskirchen kamen 26 Menschen um, im Rhein-Sieg-Kreis verloren neun Menschen ihr Leben.

Unter den Toten der Flut waren auch sechs Einsatzkräfte der Feuerwehr, darunter eine erst 19-jährige Feuerwehrfrau. Sie ertrank während der Evakuierung des Campingplatz „Stahlhütte“ in Dorsel an der Ahr, als sie eine hilflose ältere Frau retten wollte.

Nach der Flutkatastrophe legten Bundestag und Bundesrat einen Wiederaufbaufonds über 30 Milliarden Euro auf. Darin enthalten sind zwei Milliarden Euro für die Wiederherstellung der Infrastruktur des Bundes. Diese Kosten trägt der Bund alleine. An den geschätzten Kosten des Wiederaufbaus in den betroffenen Ländern in Höhe von 28 Milliarden Euro beteiligen sich Bund und die Gemeinschaft aller Länder jeweils hälftig. Daraus ergibt sich für die Länder ein Anteil von bis zu 14 Milliarden Euro. (kmü)

Deshalb hat NRW-Innenminister Herbert Reul bereits im September 2021 ein Expertenteam einberufen, das Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes ausgesprochen hat. Hier geht es vor allem um die Digitalisierung relevanter Einsatzdaten, eine bessere Einschätzung drohender Gefahren und eine bessere Vorbereitung auf solche Ereignisse, um im Katastrophenfall schnell und mit der notwendigen Routine handeln zu können.

Wären wir heute bei einer ähnlichen Flut-Lage besser geschützt?

Einige Empfehlungen haben wir bereits umgesetzt. Gemeinsam mit dem Deutschen Wetterdienst haben wir eine Weiterentwicklung von Prognose-Tools vereinbart. Gleichzeitig werden wir ein Hochwasservorhersagesystem für möglichst alle Gewässer einführen und auch den Hochwassermeldedienst durch landesweit einheitliche Regelungen verbessern.

Klar ist aber auch, dass es durch starke regionale und lokale Unterschiede nicht die eine Lösung geben kann, die sofort für alle Gemeinden passt. Den Katastrophenschutz umfangreich auf die Herausforderungen des Klimawandels einzustellen ist komplex und erfordert Zeit und das Wissen von Experten – darauf bauen wir.

Was muss jetzt auf jeden Fall noch verbessert werden?

Wir müssen uns besser auf solche Großschadensereignisse vorbereiten. Der Schutz unseres Klimas und die Bewahrung der Schöpfung sind die größten Aufgaben unserer Zeit, Klimaanpassung – also die Folgen des Klimawandels abzumildern – gehört auch dazu.

Ein durchdachtes Konzept erfordert die Einbindung von Städtebau, Gewässerbewirtschaftung, Flächennutzung, baulichem Hochwasserschutz und Risikomanagement. Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr müssen sich auf Szenarien einstellen, die es so noch nicht gegeben hat. Daher müssen wir alle gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Wie hat die Katastrophe Ihre politische Agenda für die nächsten Jahre beeinflusst?

Als Landesregierung lassen wir nicht nach, die betroffenen Menschen zu unterstützen und einen zügigen Wiederaufbau zu ermöglichen. Allein bei Privathaushalten sind etwa 94 Prozent der Anträge geprüft oder bewilligt und rund 493 Millionen Euro Wiederaufbauhilfe in der Auszahlung.

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Für den Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur wurden bereits mehr als 900 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, mit denen Kindertagesstätten, Krankenhäuser oder Straßen und Brücken wiederaufgebaut wurden. Die Hochwasserkatastrophe mahnt uns, beim Klimaschutz voranzukommen und erfolgreich zu sein bei der Verbindung von Klimaschutz und Industrieland.

Wir wollen Nordrhein-Westfalen zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas machen. Wirtschaftspolitik und Klimaschutz müssen für diese Transformation zusammen gedacht werden, damit wir natürliche Lebensgrundlagen, gute Arbeitsplätze und soziale Sicherheit und Gerechtigkeit erhalten. Wenn wir das schaffen, kann Nordrhein-Westfalen zum Vorbild für andere werden.