Was passiert im Krisenfall? Und was ist los, wenn die Bundeswehr auf ihre Reservistinnen und Reservisten zugreifen muss? Sie übt mit ihnen derzeit in NRW intensiv die „zivil-militärische Zusammenarbeit“.
Verteidigung beginnt vor der HaustürIn NRW läuft aktuell eine wichtige Militärübung

Zivil-militärische Zusammenarbeit im Ernstfall: Nach der Flutkatastrophe von 2021 sichert die Bundeswehr mit einem Räumpanzer in Rheinland-Pfalz einen Hang, der abzurutschen droht.
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Eine „große Militärübung“ muss nicht dröhnen, wummern, nach Diesel riechen. Es gibt große Übungen, die fast unsichtbar, aber für die „Zeitenwende“ so wichtig sind wie die mit Panzern und Flugzeugen. Sie beginnt mit einer Handvoll Soldaten in einem Gerätehaus.
Martin Geelen ist Englisch- und Wirtschaftslehrer, unterrichtet an einem Berufskolleg in Moers. Heute haben die Jugendlichen aus seinem Englischkurs zwei Stunden früher frei, denn dieser Tag gehört Geelens „zweitem Leben“ als Oberstleutnant der Reserve.
Im Feuerwehrgerätehaus von Goch trainieren eine Frau und sechs Männer mittleren Alters die „zivil-militärische Zusammenarbeit“ (ZMZ). Die gibt es schon länger, aber in der sich zuspitzenden Sicherheitslage in Europa werde sie immer wichtiger, sagen die Soldaten. Das Kuriose: Hier geht es zwar um die Zusammenarbeit mit Zivilisten – gemeint sind Feuerwehr, Polizei, Bürgermeisterinnen, Landräte, Rettungsdienste -- aber die sind gar nicht dabei. „Wir müssen erst intern lernen, mit Lagen fertig zu werden. Später werden wir das sicher auch mit Zivilisten trainieren“, erklärt Geelen.
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Reservisten als „Augen und Ohren vor Ort“
Mit „Wir“ ist ein Kreisverbindungskommando (KVK) gemeint. In jedem Kreis, in jeder kreisfreien Stadt in NRW gibt es diese KVK, bestehend aus Reservistinnen und Reservisten. „Wir sind die Augen und Ohren vor Ort“, sagt Geelen. Sie sehen, sie hören und – noch wichtiger – sie kennen die wichtigen Leute: Rat- und Kreishausspitzen, Polizeiführung, die ganze „Blaulichtfamilie“.
Die „Lage“ an diesem Tag hat sich eine Übungsleitung im Bundeswehr-Landeskommando in Düsseldorf ausgedacht. Sie ist vertrackt, und sie wird immer schlimmer. „Wir arbeiten nach dem Motto: Train hard, fight easy“, sagt Lehrer Geelen. Die Damen und Herren in Goch müssen zwei fiktive Einsätze gleichzeitig meistern: Nach Starkregen drohen Überflutungen an Rhein und Ruhr, und die betroffenen Ortschaften benötigen „helfende Hände“ der Bundeswehr, um Sandsäcke zu füllen und zu stapeln.
Gleichzeitig bewegt sich ein Militärkonvoi von West nach Ost durch NRW, und anhand des simulierten Geschehens ließe sich Murphys Gesetz erklären: Was schiefgehen kann, wird schiefgehen. Ein Laster der US-Armee bleibt liegen und blockiert die Autobahn. Eine Baustelle zwingt den Konvoi auf schmale Landstraßen, in der Kaserne in Düsseldorf fällt der Strom aus, und die dortige Küche, die den Konvoi versorgen sollte, bleibt kalt. Konsequenz: Ohne zivile Hilfe geht nichts mehr.
Vor jeder neuen Zuspitzung ertönt ein Gong wie an einer Hotelrezeption. Der letzte Gong krönt den Stresstest: Der Kommandeur wurde vom Innenminister eingeladen und benötigt ganz fix Infos über die Lage.
Training für Kriegslage und Nothilfe
Genau das geschieht an diesem Tag an 15 verschiedenen Orten im Regierungsbezirk Düsseldorf, und das macht diese „Stabsrahmenübung“ zu einer großen. In jedem Landkreis, in jeder kreisfreien Stadt trainieren Reservistinnen und Reservisten Kriegslage und Nothilfe, zum Beispiel im Kreis Kleve, in Mettmann, in Mülheim. Vergangene Woche war das so im Regierungsbezirk Arnsberg, es folgen die Regierungsbezirke Köln, Münster und Detmold.
KVK-Soldaten haben 2014 nach dem Pfingststurm „Ela“ Hilfe organisiert, 2015 dafür gesorgt, dass Geflüchtete von Medizinern untersucht wurden, in der Corona-Krise Gesundheitsämter mit Personal verstärkt. Nun aber braut sich etwas zusammen, was die Reserve-Offiziere und -Unteroffiziere anfasst: Deutschland müsse bis 2029 „kriegstüchtig“ werden, wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagt. Anders gesagt, Die Wahscheinlichkeit, dass nicht bei Übungen bleibt, nimmt zu.
Hauptmann Arno M. fühlt sich „an den Kalten Krieg erinnert“. Der Pädagoge Martin Geelen sagt: „Natürlich mache ich mir Sorgen. Sollte es zur Aktivierung der Reserve kommen, wären wir betroffen. Notfalls mit allen Konsequenzen. Aber wir ziehen das durch.“
Reservist sein kostet Freizeit
Geelen erklärt, seine kleine Truppe sei top-motiviert. Eine Ärztin ist dabei, Lehrer, ein Industrie-Manager, Verwaltungsangestellte. Oberfeldärztin Bettina K. war 24 Jahre beim Militär, arbeitet in einer Hausarztpraxis in Goch, wollte aber den Kontakt nicht abreißen lassen. „ich bin damals mit einem weinenden Auge von der Bundeswehr weggegangen“, sagt sie. Etwa einmal im Monat komme die KVK-Runde dienstlich zusammen, meist abends oder an Wochenenden. Reservist zu sein, koste Freizeit, sagen sie.
In Düsseldorf läuft die Kommunikation der Übenden in einer Zentrale zusammen. Hier arbeitet Oberstleutnant Achim Schneider aus Essen zusammen mit zwei Dutzend Helferinnen und Helfern, um die KVK-Soldaten in den Landkreisen vor immer neue Probleme zu stellen. „Wir sind hier die Spinne im Netz“, sagt er.
Mehr als ein Jahr habe die Vorbereitung auf die Übung gedauert, erklärt Schneider. Die Nachbereitung werde noch einmal Wochen kosten. Das Landeskommando NRW ist froh über das zunehmende Interesse der NRW-Politik für die Bundeswehr. Die Kontakte zu den Ministerien sowie zur Staatskanzlei seien eng, betont Schneider. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagt es inzwischen oft: NRW sei bei der „Zeitenwende“ dabei.