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Interview

Politikwissenschaftler
„Von Strategie kann man bei Donald Trump nicht reden“

Lesezeit 8 Minuten
Herfried Münkler war im vergangenen Jahr zu Gast bei der Lit.Cologne

Herfried Münkler war im vergangenen Jahr zu Gast bei der Lit.Cologne

Wird Friedrich Merz die Herausforderungen der Zeitenwende in der Sicherheitspolitik meistern können? Herfried Münkler sieht mit Skepsis auf Merz politische Manöver. 

Herfried Münkler sieht in Russlands Präsident Wladimir Putin den autokratischen Herrscher einer Großmacht, die imperialistische Ziele verfolgt. Er fürchtet einen Angriff Russlands auf das Baltikum, wenn es nicht gelingt, Putin in der Ukraine wirkungsvoll zu stoppen. Im Interview mit Stefan Lüddemann entwickelt er seine geostrategischen Ideen für den Westen – und fordert rasches Handeln.

Herr Münkler, beispiellose Sondervermögen sollen helfen, die Bundeswehr wieder verteidigungsfähig zu machen. Ist die viel beschworene Zeitenwende erst damit wirklich in den Köpfen der Politiker angekommen?

Ja, das kann man sagen, erst jetzt jedenfalls, was die operative Politik angeht. Die Ampel-Koalition hat es wegen der Position des Bundesfinanzministers nicht geschafft, die Rüstungsproduktion wirklich in relevantem Maß hochzufahren. Es ist bislang nicht gelungen, die Produktion von Panzern, Haubitzen oder anderem Kriegsgerät auf einen industriellen Maßstab zu heben. Das hat auch damit zu tun, dass in Deutschland Rüstungsgüter nur gefertigt werden dürfen, wenn sie bestellt sind. Das geht also nicht auf Vorrat. Nach dem Februar 2022 hat das dazu geführt, dass militärische Güter nur sehr sporadisch an die Ukraine ausgeliefert worden sind. Für die Bundeswehr ist wenig bis nichts passiert. Wenn Zeitenwende einen Sinn hat, dann auch den, die Armee von einer Einsatzarmee umzustellen auf eine Armee, die das Land und das Bündnis verteidigen kann. Das ist eine ganz andere Armee.

Dabei geht es auch um Zeitfenster. Hat die Bundesrepublik noch die Zeit, verteidigungsfähig zu werden?

Der Schutzschild ist augenblicklich noch die Ukraine. Sie hält das Zeitfenster offen. Solange Wladimir Putin seine große Armee in der Ukraine gebunden sieht, wird er keine zweite Front aufmachen. Sollte die Ukraine jedoch aufgrund der aktuellen amerikanischen Politik zusammenbrechen, was nicht auszuschließen ist, dann wird es kritisch. Eine vergleichbare Situation haben wir 2021 mit der afghanischen Armee erlebt, die kollabierte, als ihr die westliche Hilfe entzogen wurde. Wenn die Ukraine aber kollabiert, muss man damit rechnen, dass die russischen Attacken gegen sie seit 2014 das Drehbuch abgeben für Angriffe auf das Baltikum, die dann folgen werden.

Friedrich Merz ist vorgeworfen worden, mit seiner Wende in der Frage der Schuldenbremse ein Wahlversprechen gebrochen zu haben. War diese Kehrtwende unausweichlich?

Sein Verhalten ist nicht unproblematisch, weil er als Oppositionsführer eine fundamental andere Politik verfolgt hat. Merz hätte sicher gut daran getan, schon in der Zeit der Ampel mit SPD und Grünen zusammenzuarbeiten, um die Schuldenbremse zu lockern. Das hätte im Hinblick auf die Frage der Verteidigung Sinn gemacht. Merz stünde jetzt ohne den Vorwurf des Wortbruchs da. Er hat in dieser Frage keinen strategischen Weitblick bewiesen. Das gilt auch für die Frage der Migration, in der er mit seinem Vorstoß nichts gewonnen hat. Man kann sich nicht sicher sein, dass er als Kanzler den Herausforderungen, die sich jetzt stellen, gewachsen sein wird.

Markiert dieses Verhalten die Bruchstelle zwischen einem taktischen politischen Agieren und jener strategischen Orientierung, die Sie in Ihrem neuen Buch „Macht der Mitte“ einklagen?

Ja, das ist so. Das ist auch an Friedrich Merz zu beobachten. In den letzten 30 Jahren haben wir in Genuss der Friedensdividende gedacht, dass internationale Politik auf die Basis von Rechtsregeln und wirtschaftlicher Macht gestellt werden könnte. Darüber ist das geostrategische Denken verloren gegangen. Der Horizont der Politik hat sich auf höchstens vier Jahre verengt. Es gibt Planungen, aber keine Strategien. Bei Strategien hat man einen Gegenspieler, Planungen definieren ein Problem, das abgearbeitet werden kann. Die deutsche Politik hat die Strategie vergessen und sich auf Planung verlegt, die aber in hohem Maße von Wissenschaftlern und Nicht-Regierungs-Organisationen vorangetrieben und kommuniziert wird.

Nehmen Sie Politiker wahr, die über die Möglichkeit eines strategischen Denkens verfügen?

Wenn ich sage, dass ich sie nicht sehe, dann heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Bislang sind sie nicht in der ersten Reihe sichtbar. Lange waren es Politiker mit der Erfahrung des Offiziers des Zweiten Weltkriegs, die ein solches strategisches Denken gezeigt haben, in beispielhafter Weise Helmut Schmidt (SPD) und Franz-Josef Strauß (CSU), und mit ihren politischen Vorerfahrungen Konrad Adenauer (CDU) und Willy Brandt (SPD). Danach hat sich diese Kompetenz in der Politik verloren, gab es keine fundamentalen strategischen Entscheidungen mehr. Über Strategie konnte man damals immer noch am besten mit Leuten aus den alten K-Gruppen sprechen, die zu den Grünen übergelaufen waren. Diese Leute sind verschwunden. Im Augenblick fällt mir niemand ein, der dieses Denken beherrschte. Egon Bahr (SPD) formulierte noch das Konzept eines Wandels durch Annäherung im Umgang mit der Sowjetunion.

Wie sieht dabei Deutschland Rolle in Europa aus? Sie bezeichnen Deutschland als „Macht der Mitte“. Was bedeutet das konkret?

Akteure früherer Epochen, die versucht haben, aus der Mitte heraus zu agieren, wie etwa Napoleon oder Hitler, haben gezeigt, wie dieses Konzept scheitern kann. Man muss die Sandwichposition Europas – von Putin bedroht, von Trump erpresst – jetzt klarer durchdenken. Daraus ergibt sich, die Mitte Europas neu zu reflektieren. Die deutsche Rolle ist nicht gegen andere gerichtet, sondern in einer engen Bindung mit Paris und Warschau zu sehen, um das Weimarer Dreieck zu zitieren, und mit Rom und London. An Deutschland als Akteur hängt alles. Die Europäische Union hätte bei der Euro-Krise den Austritt Griechenlands verkraften können. Sie hat den Brexit verkraftet. Den Austritt Deutschlands würde sie nicht verkraften, das wäre das Ende. Im Augenblick liegt der Ball im Feld der Briten und Franzosen. Emmanuel Macron und Keith Starmer bestimmen das Tempo, die Deutschen stehen ein wenig abseits, weil sie notorisch auf die Amerikaner gesetzt haben. Macrons Frankreich betont die europäische Dimension der Verteidigung.

Europäer definieren sich als Teil des Westens. Wo steht diese Bezugsgröße mit der erneuten Präsidentschaft Donald Trumps?

Wenn wir von Westen sprechen, dann meinen wir den transatlantischen Westen. Den wird es so nicht mehr geben, nicht unter Trump, wohl aber auch nicht unter einem demokratischen Präsidenten, wenn der Trump nachfolgen sollte. Schon Barack Obama hat sich 2011 von dieser Vorstellung distanziert. Er favorisierte bereits den pazifischen gegenüber dem atlantischen Raum. Damals hätte es die Chance für die Europäer gegeben, die Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen und die USA im pazifischen Raum zu unterstützen. Das wäre sehr teuer gewesen. Dann hätte man aus dem transatlantischen Westen einen globalen Westen machen können. Das ist aber nicht geschehen. Jetzt müssen die Europäer davon ausgehen, dass die USA nicht mehr die gewohnte Rolle für die europäische Sicherheit spielen werden. Die Europäer müssen sich auf eigene Füße stellen. Dazu bedarf es vielleicht keiner europäischen Armee, aber eines gemeinsamen Oberkommandierenden, der im Wechsel besetzt wird. Das wäre ein ungeheurer Schritt, vor allem für Frankreich, Polen und Großbritannien. Wenn die Europäer diesen Schritt schaffen, dann werden sie auch noch viele andere Schritte schaffen.

Wie sehen Sie den Westen – als Wertegemeinschaft oder als Interessenverbund?

Zunächst ist der Westen eine Wertegemeinschaft, der auf Vorstellungen des Rechtsstaats und der bürgerlichen Teilhabe aufbaut. Hinzu kommt die freie Marktwirtschaft. Der Westen ist auch eine geopolitische Gemeinschaft. Die USA hatten stets das Interesse, die gegenüberliegende Küste zu kontrollieren, um von dort her nicht bedroht werden zu können. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für Ostasien. Dieses Konstrukt gibt es so nicht mehr. Trump hat vermutlich die Idee, Grönland zu beherrschen, um diesen Effekt zu erreichen und dabei auf Europa verzichten zu können. Dabei wird er sich natürlich verrechnen.

Donald Trump müsste doch das Gegenteil eines strategisch handelnden Politikers sein, oder?

Das ist er auch. Wenn seine Präsidentschaft zu Ende geht, ob in vier Jahren oder schon früher, wird er als extrem schwacher Präsident in die Geschichte eingehen. Die USA werden durch sein Handeln sehr geschwächt. Trump denkt erkennbar opportunistisch und an Gelegenheiten orientiert. Er bedenkt nie die langfristigen Folgen. Das hat schon seine erste Präsidentschaft gezeigt. Sein Versuch zum Beispiel, mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un ins Gespräch zu kommen, ist vollständig gescheitert. Ein anderes Beispiel sind seine gescheiterten Bemühungen in Afghanistan. Sollte er sich in der Frage der Ukraine mit seinen Vorstellungen durchsetzen, werden wir dort womöglich etwas ganz Ähnliches erleben. Trump denkt ganz kurzsichtig, oft nur ein paar Stunden im Voraus. Von Strategie kann man bei ihm nicht reden. Die Stärke der USA nach dem Zweiten Weltkrieg war ja gerade, dass sie eine geopolitische Strategie hatte, die die Handlungsräume der Präsidenten eingegrenzt haben.

China betreibt doch genau die gegenteilige Politik mit einer sehr langfristigen Perspektive…

Ja, das denke ich auch. Die Chinesen profitieren von der Entfremdung zwischen den USA und Europa. Um einen Wirtschaftskrieg gegen China gewinnen zu können, bräuchte Trump die Europäer auf seiner Seite. Die hat er jetzt aber vergrault. Wir befinden uns geopolitisch in einem System mit fünf Mächten, das anders funktioniert als unipolare Strukturen. Diese neue Struktur ist sehr macht- und weniger regelbasiert. In dieser Struktur können potenziell alle fünf Akteure miteinander koalieren. Darin liegen große Herausforderungen für die deutsche Politik, die in Werten lange eine Grenze der Koalitionsfähigkeit gesehen hat.

Wie gefährdet ist Demokratie denn in einer Zeit, in der Autokratien an Boden gewinnen?

Die Identifikation mit einer bestimmten Wertestruktur hatte bislang eine klare Basis in unserer Vorstellung vom Westen. Nun sollte klar sein, dass Donald Trump vom Rechtsstaat nichts hält und Gerichtsurteile missachtet. Die Auseinandersetzung findet aber auch durch die populistischen Bewegungen in Europa statt. In diesen Bewegungen liegt immer eine Präferenz fürs Autoritäre. Die Neigung der Wähler der AfD und des BSW für autoritäre Strukturen beruhte bislang auf einer Orientierung Richtung Osten. Jetzt kommt mit der Bewunderung für Trump und Elon Musk auch eine Bewegung in Richtung der USA dazu, und die wird umso stärker, je autokratischer die USA werden. Es geht nicht nur um die Auseinandersetzung mit anderen Mächten, sondern auch um eine Auseinandersetzung innerhalb des eigenen Landes. Da ist nichts entschieden.