- Der mutmaßliche Missbrauchstäter Hans Bernhard U. durfte zuletzt nicht mehr als Seelsorger arbeiten, es gab aber kein komplettes Verbot des Kontakts zu Kindern und Jugendlichen: War nicht mehr möglich?
Köln – Der Prozess gegen den katholischen Pfarrer Hans-Bernhard U. werde „intensiv wahrgenommen“, teilt das Erzbistum Köln der Rundschau mit. Die Verantwortlichen seien „über die neuen Erkenntnisse bestürzt“. Erkenntnisse, die zusammengefasst lauten: Auch nachdem die Staatsanwaltschaft Köln 2011 erste Ermittlungen gegen ihn eingestellt hatte und die Kirche auf ein Verfahren gegen ihn verzichtete, soll U. Sexualdelikte an Kindern begangen haben – zuletzt 2019. Am heutigen Mittwoch will die Staatsanwaltschaft Einzelheiten nennen. Damit stellt sich die Frage: Wurde U. ausreichend kontrolliert?
Wie ist das Erzbistum mit U. seit 2011 verfahren?
Im Dezember 2011 setzte der damalige Erzbischof Joachim Kardinal Meisner U. wieder in seinen Dienst als Krankenhausseelsorger in Wuppertal ein. Dort hatte er auch Kontakt zu Kindern. Dazu erklärte Meisners Offizial (Chefrichter) Günter Assenmacher vor Gericht, man sei davon ausgegangen, dass im Krankenhaus kaum Missbrauch begangen werden könne.
Die Kölner Strafrechtler Björn Gercke und Kerstin Stirner haben diese Entscheidung in ihrem Gutachten für das Erzbistum Köln nicht abschließend bewertet, auch wenn die Einschätzung nahe liege, dass hier eine Pflicht zur Sanktionierung und Verhinderung weiterer Taten bestanden hätte. Aus heutiger Sicht teilen Gercke und Stirner der Rundschau mit, die damalige Einschätzung könnte sich gegebenenfalls ändern, wenn U. wegen des mutmaßlichen Missbrauchs seiner Nichten verurteilt würde – das war die 2010/2011 bekannte Anschuldigung.
Einem Verantwortungsträger könnte ein Vorwurf aber nur dann gemacht werden, wenn er auch Kenntnis davon gehabt hätte, dass die Taten tatsächlich verübt wurden. Konkret könnten sie sich nicht äußern, da sie den Prozess nicht verfolgen und er unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.
Geschäftsherrenhaftung
Vorgesetzte können unter bestimmten Umständen für Fehlverhalten von Mitarbeitern rechtlich haftbar sein – dann nämlich, wenn sie von Straftaten ihrer Mitarbeitenden erfahren, nicht dagegen vorgehen und dann ein neues Delikt geschieht.
Diese „Geschäftsherrenhaftung“ kann grundsätzlich auch bei Missbrauchsdelikten im Raum der Kirche relevant sein. Das Gercke-Gutachten sah sie allerdings bei keinem der untersuchten Fälle im Erzbistum Köln als gegeben an. Das hat eine kontroverse Diskussion ausgelöst. Unter anderem der Mainzer Strafrechtler Jörg Scheinfeld sah Anhaltspunkte für das Bestehen einer Geschäftsherrenhaftung. Und Kirchenrechtler Thomas Schüller sagt, dass „ein Priester entgegen der in der Sache unzulässigen Behauptung in diesem Gutachten nie Privatmann ist, sondern durch die Weihe und seine seelsorgliche Beauftragung immer im Dienst ist“.
Der Kölner Strafrechtler Martin Waßmer hatte der Rundschau in der Debatte um das Gercke-Gutachten gesagt, Bischöfe müssten zwar „typischen personellen Gefahren im Wirkungsbereich der Kirche“ entgegentreten. Sie seien aber nicht für die insgesamt straffreie Lebensführung ihrer Mitarbeiter verantwortlich. Gerichtlich nicht geklärt sei, was gelte, wenn ein Seelsorger Kontakt zu späteren Opfern suche, Missbrauchsdelikte aber bei privaten Einladungen begehe. Scheinfeld meint dagegen, es komme vor allem darauf an, ob dieser Seelsorger seinen Opfern als Priester gegenübertrete, ob also sein Amtsansehen die Tatbegehung begünstige. (rn)
Der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht einen Pflichtverstoß beim Erzbistum: „Nach den damals geltenden Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz hätten die Verantwortlichen für die Phase der Voruntersuchung dafür Sorge tragen müssen, dass Pfarrer U. nicht in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen kommt.“ Dies, sagt Schüller der Rundschau, hätte zudem „durch ein funktionstüchtiges kirchliches Überwachungssystem durch Priester vor Ort regelmäßig in kurzen Zeitabständen überprüft werden müssen“.
Neben Meisner nimmt Schüller auch den damaligen Generalvikar Dominik Schwaderlapp, Personalchef Stefan Heße (heute Erzbischof in Hamburg) und Assenmacher in die Pflicht: Man hätte U. nicht „ohne Gefahrenabschätzung und damit auch ohne Auflagen für seine seelsorgliche Verwendung wieder in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen in der Seelsorge“ bringen dürfen. Der Mainzer Strafrechtler Jörg Scheinfeld meint, das Erzbistum hätte „einen sicheren Weg gehen“ müssen. Das heißt: U. so einsetzen, dass er nicht mit Kindern und Jugendlichen hätte in Kontakt kommen könne. Das Erzbistum selbst bittet, zur Beurteilung dieser Frage das laufende Verfahren abzuwarten.
Fall Pfarrer U.: Wann wurde das Erzbistum wieder tätig?
Am 1. April 2016 ernannte der neue Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki U. zum Pfarrvikar „zur besonderen Verfügung“ des Euskirchener Kreisdechanten Guido Zimmermann. Was es mit der Person des neuen Pfarrvikars auf sich hatte, erfuhr der Kreisdechant – der hierzu auf die Stellungnahme des Erzbistums verweist – aber erst 2019.
Inzwischen hatte Woelki alle Akten über mögliche Sexualdelikte von Priestern neu untersuchen lassen. Ohne diese Entscheidung stünde U. wohl heute nicht vor Gericht. Das hebt Peter Bringmann-Henselder hervor, Sprecher des Betroffenenbeirats beim Erzbistum.
Das Erzbistum leitete 2018 eine neue Voruntersuchung ein und zeigte U. an. Im Dezember 2018 wies Generalvikar Markus Hofmann U.s Vorgesetzte darauf hin, dass dieser „im Rahmen seiner priesterlichen Tätigkeit nicht alleine mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen“ dürfe. Er habe alles ihm Mögliche getan, dies zu gewährleisten, sagte Zimmermann zuletzt der Katholischen Nachrichtenagentur. Am 4. April 2019 untersagte Woelki U. dann per Dekret jede öffentliche Ausübung seines priesterlichen Dienstes, und Personalchef Mike Kolb informierte den Kreisdechanten über die Hintergründe.
Was galt für den Kontakt von Pfarrer U. mit Kindern?
Das Verbot der öffentlichen Dienstausübung „impliziert das Kontaktverbot im Rahmen seines priesterlichen Dienstes mit Kindern und Jugendlichen“, erklärt das Erzbistum weiter. Reichte das?
„Das reicht nicht“, sagte Kirchenrechtler Schüller. Und Betroffenenvertreter Bringmann-Henseler meint: „Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass ein allein auf die priesterliche Tätigkeit beschränktes Kontaktverbot ein absolutes No-Go ist und war. Das Verbot hätte auch schon damals für die Person als Ganzes gelten müssen, also ein absolutes Kontaktverbot.“
Auch Kirchenrechtler Schüller hält ein „absolutes Kontaktverbot dienstlich wie privat“ für geboten. Dies, so Schüller, hätte zudem durch einen Priester vor Ort „engmaschig überprüft werden müssen, wie es zum Beispiel vorbildlich im Bistum Essen praktiziert wird“. Dort muss Peter H. – jener Geistliche, wegen dessen früherer Tätigkeit im Erzbistum München auch Ex-Papst Benedikt XVI. unter Druck geraten ist – an einem ihm zugewiesen Ort unter Aufsicht leben.
Auch wenn die Leitlinien und der dort erwähnte Kanon 1722 des kirchlichen Gesetzbuchs nur von Maßnahmen sprechen, die ein Bischof verhängen „kann“, sagt Schüller: „Kirchenrechtlich ist ein Kann ein Sollen.“ Die „ratio legis“, das Ziel der Bestimmungen sei: „Alles erdenklich Notwendige zu tun, dass potenzielle Opfer geschützt werden.“
Das Erzbistum widerspricht. Vorsichtsmaßnahmen könnten nicht "ohne Weiteres" ergriffen werden, "sondern nur, wenn sie aufgrund der Gesamtsituation als geeignet, erforderlich und angemessen anzusehen sind". Und der beratend am Gercke-Gutachten beteiligte Kirchenrechtsanwalt Peter Korta weist darauf hin, dass Kanon 1722 Vorsichtsmaßnahmen abschließend aufzähle. Ein absolutes Kontaktverbot ist nicht darunter. Kann man es folglich nicht rechtmäßig verhängen (Korta) oder doch? Schüller verweist auf die unbedingte Gehorsamspflicht eines Klerikers gegenüber dem Bischof. Der könne auch nicht explizit erwähnte Maßnahmen anordnen.
Kanon 1722 selbst beschreibt drei Maßnahmen: Ausschluss vom geistlichen Dienst, Auflagen für den Aufenthalt und Verbot der öffentlichen Teilnahme an der Eucharistie. Die erste Maßnahme sei erfolgt, so das Erzbistum, für die dritte habe kein Anlass bestanden. Aber was wäre dann mit der zweiten Möglichkeit, also Modell Peter H.? Für das Bistum wäre dies bei U. nicht verhältnismäßig gewesen – denn die 2019 bekannten Vorwürfe bezogen sich auf mehr als 20 Jahre zurückliegende Vorgänge, Verdachtsmomente für spätere Taten kannte die Diözese damals nicht.
Gibt es strafrechtliche Konsequenzen für weitere Kirchenvertreter?
Die Staatsanwaltschaft Köln hat noch nicht entschieden, ob sie gegen weitere Personen etwa wegen Begünstigung oder Beihilfe ermittelt. Scheinfeld meint, dass auch der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung in Frage käme. Denn Beihilfe und Begünstigung setzten Vorsatz voraus. Und: Die Ermittler müssten nach Paragraf 160 Strafprozessordnung tätig werden, „sobald“ sie von Verdachtsfällen Kenntnis erhalten – gegebenenfalls auch vor einem Urteil. Die Behörde meint, sie könne dies erst nach Abschluss des Verfahrens beurteilen.
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Schüller hält das Verhalten des Erzbistums nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich für „verwerflich“. Zurückhaltend ist die Bewertung von Gercke und Stirner: „Sofern in der Hauptverhandlung festgestellt werden sollte, dass Verantwortliche mehr gewusst haben, als bisher bekannt war, kann dies ggf. auch zur Annahme einer Beihilfe zum sexuellen Missbrauch durch Unterlassen führen“. Die Gutachter selbst könnten dazu aber keine seriöse Aussage treffen.