Köln – Für die Sache der Kinder wollte er kämpfen. Das hatte Joachim Kardinal Meisner dieser Zeitung gesagt, als sie ihn zu seinem 70. Geburtstag 2003 fragte, was er in seiner verbleibenden Amtszeit als Erzbischof von Köln noch vorhabe. Nun wird er im Gutachten der Anwaltskanzlei Gercke über den Umgang mit sexualisierter Gewalt schwerer belastet als irgendein anderer Amtsträger.
„Nichts geahnt, nichts geahnt“ habe er von all den Missbrauchsfällen, sagte Meisner noch 2015 dem Deutschlandfunk, zwei Jahre vor seinem Tod. Dabei hat er laut Gutachten selbst Dokumente über verdächtige Pfarrer verwahrt – der Aktentitel „Brüder im Nebel“ hat alle Chancen, sprichwörtlich zu werden.
Gutachten dokumentiert 23 Pflichtverstöße
23 Mal verstieß Meisner laut Gutachten gegen seine Pflichten: Keine Aufklärungsbemühungen (sechs Fälle), keine Meldung an die Glaubenskongregation (neun Fälle), keine Sanktionen (zwei Fälle), keine Fürsorge für die Opfer (fünf Fälle), kein Bemühen um Verhinderung neuer Delikte (ein Fall).
Im November sprach Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki von schweren Fehlern in der Amtszeit seines Vorgänger: „Es ist verheimlicht worden.“ Damals ging es um den Fall des inzwischen aus dem Priesteramt entfernten Nikolaus A., der trotz zweier Verurteilungen immer wieder eingesetzt wurde – in den Bistümern Köln, Münster und Essen. Der Fall firmiert bei Ger-cke als „Aktenvorgang 13“.
Lebensdaten
Joachim Meisner, am 25. Dezember 1933 in Lissa bei Breslau geboren, war von 1980 bis 1988 Bischof von Berlin (Kardinal seit 1983) und von 1989 bis 2014 Erzbischof von Köln. Er starb am 5. Juli 2017 während einer Urlaubsreise in Bad Füssing.
Oder Pfarrer F., als Autor religiöser Kinderbücher und Kirchenrebell bekannt. Er wird 1991 wegen sexueller Handlungen an und mit Kindern angeklagt (Aktenvorgang 18). F. muss seine Pfarrstelle verlassen, aber: keine Meldung nach Rom, stattdessen die Idee, F. möge doch in ein anderes Bistum ziehen. Dazu kommt es nicht. Bemerkenswert allerdings auch: Das Gerichtsverfahren wird gegen Geldbuße eingestellt, um – so der Verteidiger – den Pfarrer nicht „kaputt zu machen“. 2012 versucht Meisner dann doch, wegen neu aufgekommener Vorwürfe durchzugreifen. Diesmal geht der Fall nach Rom, und diesmal ist es die Glaubenskongregation, die Meisner ausbremst. Der Pfarrer darf wieder Gottesdienste feiern. Inzwischen lässt Woelki in der Sache neu ermitteln, F. hat erneut Zelebrationsverbot.
Keine Meldung in Rom machte Meisner, als der schon im Collegium Josephinum in Bad Münstereifel aufgefallene Pfarrer E. anno 2002 eine Messdienerin mit einem intimen Brief bedrängte (Aktenvorgang 14). Er bewegte den Mann zum Verzicht auf seine Pfarrstelle und zu einer Therapie, setzte ihn 2003 aber erneut als Pfarrverweser ein.
Zu den schon bisher bekannten Fällen gehört der des Woelki eng verbundenen Düsseldorfer Pfarrers O. (Aktenvorgang 5), von dessen Aufklärung und Meldung Meisner 2011 absah. Wie berichtet machen die Gutachter Woelki selbst keine Vorwürfe.
Keine Hilfe für Betroffene angeboten
Das Gutachten belegt viele weitere Fälle. Beispiele: 1991 verzichtete Meisner darauf, Vorwürfe aufzuklären, ein Pfarrer habe männliche Jugendliche – auch im Rahmen von Beichten bei ihm zu Hause (!) – bedrängt (Aktenvorgang 2). Hilfe bot Meisner den Betroffenen nicht an. Er beließ es bei einer Ermahnung und Verhaltensauflagen, schritt aber nicht ein, als der Delinquent die missachtete. Damit, so die Gutachter, verstieß er auch gegen die Pflicht, „eine potenzielle weitere Gefahr für Minderjährige abzuwehren“. Allerdings dokumentiert das Gutachten hier keine späteren Delikte.
Oder „Aktenvorgang 10“: Ob ein Geistlicher eine 13-Jährige unter der Dusche fotografiert haben soll oder ob 2010 ein Missbrauchsvorwurf gegen ihn vorliegt, Meisner meldet es nicht nach Rom. 1995 gab es kein Strafverfahren gegen einen Priester, der sich offen als pädophil bezeichnete und eine Tat gestand (Aktenvorgang 12). 2002 unterrichtete der Psychiater Manfred Lütz das Erzbistum von Sexualdelikten an Jugendlichen, die ein Priester ihm offenbart hatte (Aktenvorgang 16). Meisner unternahm nichts, um die Betroffenen zu kontaktieren.
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Meisner, der so stolz auf seine Freundschaft zu den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. war, ignorierte allzu oft deren Vorschriften in punkto Missbrauchsdelikte. Er half sich mit Versetzungen und Auflagen. Im Fall F. wurde er selbst wegen vermeintlich unfairer Behandlung eines Seelsorgers sogar für dessen Anhänger zum Buhmann.
„Nichts geahnt, nichts gewusst“, dabei blieb es: Noch in Meisners posthum erschienenen Memoiren steht kein Wort zu den Missbrauchsaffären, deren Bekanntwerden seit 2010 sein Erzbistum erschütterte.