Interview zum Gutachten„Es muss auch aufgeklärt werden, was nicht in den Akten steht“
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Welche Konsequenzen sind aus dem Kölner Missbrauchgutachten zu ziehen – auch über Köln hinaus?
Raimund Neuß sprach mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig.
Das Gutachten über den Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln liegt jetzt vor. Im Vorfeld haben Sie selbst von Vertrauensverlust gesprochen. Ist das Vertrauen jetzt wiederherzustellen?
Verlorenes Vertrauen ist sicher nicht allein durch dieses Gutachten wiederherzustellen, dafür muss das Erzbistum Köln weitere Schritte unternehmen. Die ersten Suspendierungen sind sicher ein wichtiger Schritt, aber jetzt muss für jedermann in Köln und außerhalb erkennbar werden, dass unberechtigter Institutionenschutz der Vergangenheit angehört.
Absolute Transparenz ist nötig und die umfassende Beteiligung der Betroffenen. Das muss in der jetzt anstehenden unabhängigen Aufarbeitung, die jetzt in Köln durch eine entsprechende Kommission gestartet wird, sichergestellt sein. Wir werden da sehr genau hinschauen. Dazu gehört, dass mit Respekt und Demut mit den Betroffenen umgegangen wird.
Zur Person
Johannes-Wilhelm Rörig ist seit 2011 Unabhängiger Beauftragter für Fragendes sexuellen Kindesmissbrauchs. Zuvor hatte der 1959 geborene Vater zweier Kinder in verschiedenen Funktionen im Bundesfamilienministerium gearbeitet. (EB)
Das Gutachten zeichnet ein Bild organisierter Verantwortungslosigkeit. War das nur in Köln so oder auch in anderen Bistümern?
Naja, schon die Lektüre der großen MHG-Studie von 2018 hat gezeigt, dass angefangen bei der Aktenführung überall eher chaotische Verhältnisse bestehen. Dass das auch in Köln so war, hat mich nicht überrascht.
Aber wenn die Probleme überall bestehen, ist es dann sinnvoll, dass solche Unabhängigen Kommissionen auf Diözesanebene arbeiten?
Wir haben in den Verhandlungen mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann aus Trier, darüber lange nachgedacht. Die katholische Kirche ist, auch wenn viele Mitarbeiter ausgetreten sind, eine Riesentanker mit über 10 000 Pfarreien und noch viel mehr Einrichtungen wie Kitas, Heimen, Internaten. Um die Betroffenen einzubinden, können wir da nur regional arbeiten. Eine Kommission auf Bundesebene wäre überfordert. Wir werden auf etwa 20 Kommissionen kommen, einige davon überdiözesan.
Sehen Sie nach der Kölner Studie noch offene Fragen?
Ich fand es sehr korrekt, wie Professor Björn Gercke die Grenzen einer juristischen Aufarbeitung dargestellt hat. Natürlich ist mehr nötig. Es muss auch aufgeklärt werden, was nicht in den Akten steht. Vor allem: die Betroffenen gehören in den Blick genommen, ihr körperliches und seelisches Leid, der rigorose und oft herzlose Umgang kirchlicher Autoritäten mit den kindlichen Opfern. Ich habe mit vielen gesprochen. Zu hören, wie sie der Lüge bezichtigt oder sogar gezwungen wurden, den Missbrauch vor dem Täter zu beichten – da läuft es einem kalt den Rücken herunter. Das muss benannt und auch dokumentiert werden.
Wenn so etwas jetzt ans Tageslicht kommt, kann die katholische Kirche es oft noch ahnden. Für die Staatsanwaltschaften sind viele Fälle verjährt. Muss sich da etwas ändern?
Wir haben 2015 in Deutschland eine Verlängerung der strafrechtlichen Verfolgbarkeit von Missbrauchsdelikten erreicht. Ich finde die Lösung vernünftig. In schweren Fällen kann ein Missbrauchsopfer bis zu seinem 50. Lebensjahr Strafanzeige stellen. Es muss aber allen klar sein, das ein später Strafprozess nicht automatisch zu einer Verurteilung führt. Es kommt oft zum Freispruch aus Mangel an Beweisen, denn die Beweislage wird in der Regel immer schwieriger, je mehr Zeit zwischen Tat und Strafverfahren vergeht.
Dieses Problem haben dann auch kirchliche Behörden. Kann man von ihnen etwas erwarten, was die staatliche Justiz nicht leisten kann?
Deshalb sind ja die Aufarbeitungskommissionen so wichtig. Gerade weil es Grenzen dafür gibt, was Sie juristisch klären können. Da sollte es für die katholische Kirche ja keine anderen Maßstäbe geben als für den weltlichen Bereich.
Diese Kirche verpflichtet ihre Mitarbeiter auch zur Anzeige ihnen bekannter Missbrauchsdelikte. Normalbürger müssen das nicht tun …
Im Vordergrund muss das Wohl der Betroffenen stehen. Wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, kann das für sie erhebliche zusätzliche Belastungen bringen: Erkennbarkeit, Stigmatisierung, Identifizierung, ein langes Verfahren. Deshalb steht auch in der Rahmenordnung der katholischen Kirche aus guten Gründen, dass auf eine Anzeige ausnahmsweise verzichtet werden kann, wenn Betroffene darum bitten.
Die katholische Kirche steht im Fokus. Wie sieht es im Bildungswesen aus, im Sport, in der Evangelischen Kirche?
Die katholische Kirche hat sich bei der Aufarbeitung in eine Vorreiterrolle begeben, und es ist wichtig, dass andere Institutionen es ihr gleichtun. Die Evangelische Kirche ist auf einem guten Weg, auch die katholischen Orden sind es. Ich bin der unabhängigen Aufarbeitungskommission auf Bundesebene sehr dankbar, dass sie jetzt auch staatliche Schulen und Sport in den Blick nimmt. Für den Sport gibt es zur Zeit rege Diskussionen zwischen Innenministerium und Verbänden, was überhaupt zu tun ist, um junge Athletinnen und Athleten besser zu schützen. Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Aber immerhin geht es in die richtige Richtung.