Köln – Den Opfern wird nicht geglaubt, die Täter haben kein Schuldbewusstsein, Sanktionen sind kaum zu befürchten – das ist der rote Faden, der sich durch die 24 Fälle zieht, die wegen erwiesener Pflichtverstöße von der Kanzlei Gercke/Wollschläger in dem Gutachten genauer dargestellt werden. Drei dieser Fälle, die symptomatisch sind, bisher aber kaum oder gar nicht im Licht der Öffentlichkeit standen:
„Allerdings weiß man bei Frauen eben nie“
In den 80er Jahren erhebt eine Mutter schwere Vorwürfe: Ein Geistlicher habe ein intimes Verhältnis zu ihrer minderjährigen Tochter unterhalten und sie wahrscheinlich bei einem Schwangerschaftsabbruch in den Niederlanden unterstützt. In den Unterlagen des Erzbistums befindet sich dazu ein Schreiben des zuständigen Stadtdechanten an den Generalvikar Norbert Feldhoff. „Wie ich schon telefonisch sagte, hat der Beschuldigte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe alle zurückgewiesen. Die Frau, die ich noch sprechen muss, machte keinen unglaubwürdigen Eindruck; allerdings weiß man bei Frauen eben nie!“ 2014 geht ein Schreiben im Generalvikariat ein, in dem ein Opfer schildert, als Achtjähriger von eben diesem Geistlichen, von dem auch die Mutter berichtete, misshandelt worden zu sein. Wie wurde mit den Fällen umgegangen? „Das Schweigen der Akten zu den weiteren Vorgängen werten die Gutachter insoweit als eine Nichtfortführung des Verfahrens in tatsächlicher Hinsicht“, heißt es dazu in der Untersuchung. Feldhoff wurde zu dem Fall von den Anwälten befragt. Wie in einigen der untersuchten Fälle, für die er in seinen 30 Jahren als Generalvikar zuständig war, sagt Feldhoff, er könne sich nicht mehr erinnern.
Unter dem Deckmantel der Beichte
Anfang der 1990er Jahre erzählt ein junges Mädchen einem Priester im Beichtstuhl, wie sehr es unter der Alkoholsucht seiner Mutter leide. Der Geistliche baut in der Folge ein persönliches Verhältnis zu dem Mädchen auf, gibt Trost und Halt. Doch mit der Zeit wird klar, es ist kein Akt selbstloser Nächstenliebe. Aus den tröstenden Umarmungen werden mehr und mehr bebedrängende Berührungen. Der Geistliche schafft ein Abhängigkeitsverhältnis. Über vier Jahre lebt er seine Sexualität hemmungslos mit der jungen Frau aus. Selbst, als er für einige Zeit ins Kloster geht, lässt er sich zu diesem Zweck von ihr besuchen.
Als sie endlich die Reife hat, das Verhältnis zu beenden, ihm mit der Polizei droht, habe der Priester ihr erwidert: „Es wird dir eh keiner glauben.“ 2007 kommt der Fall vor den Geistlichen Rat des Erzbistums. Doch es interessiert nur, zu welchem Zeitpunkt die junge Frau volljährig wurde. Bei einer Befragung räumt der beschuldigte Priester „intime Berührungen“ ein. Kardinal Meisner hält eine Beurlaubung des Beschuldigten, der mittlerweile Krankenhausseelsorger ist, dennoch für nicht notwendig. „Wir müssen die Sache nach Rom melden, wenn sie nicht verjährt ist“, gibt der damalige Personalchef Stefan Heße zu Protokoll. Doch die Gutachter halten fest: „Eine Meldung nach Rom ist nicht dokumentiert.“
„Aus den Dingen keine große Sache machen“
2006 wendet sich ein Dechant an Generalvikar Schwaderlapp. Er ist besorgt wegen eines Priesters, über den es zunehmend heißt, er „packe junge Damen an“. Schwaderlapp empfiehlt ein Gespräch mit dem Beschuldigten. Inden Akten steht zu diesem Gespräch: Der Beschuldigte habe „sehr überrascht getan“. Er könne sich das gar nicht erklären, werde aber nochmals in sich gehen und „das alles sehr bedenken“. Nur ein Jahr später wendet sich der Dechant nochmals besorgt an Schwaderlapp. Nun sei die Küsterin auf ihn zugekommen. Sie berichtete, der Priester fasse in der Sakristei Messdienerinnen an. Damit sie nicht entkommen können, stelle er seinen Fuß gegen die Tür.
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Sollten jetzt nicht spätestens die Alarmglocken schrillen? Sollten die Vorwürfe zutreffen, wie weit geht der Beschuldigte noch, wenn sich ihm keiner entgegenstellt? Eine Aktennotiz des damaligen Personalchefs Heße: „Meines Erachtens sollte man aus den vorhandenen Dingen keine große Sache machen, da sich bisher von außen keine offiziellen Beschwerden ergeben haben und die Anhaltspunkte viel zu gering sind.“ Die Beschwerden über das Verhalten des Geistlichen gegenüber Kindern und Jugendlichen nehmen aber zu. Der Beschuldigte kontert in Gesprächen, es gebe Gruppen, die ihn versetzt sehen wollen. 2018 wird die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Die sieht einen Anfangsverdacht, ermittelt aber nicht weiter „wegen eines fehlenden Strafantrags“. Der Fall verläuft im Sande. Schwaderlapp wird dazu von den Gutachtern befragt: Es sei ihm nicht mehr erinnerlich, warum man da nicht weiter recherchiert habe. Die Anwälte dazu: Heße und Schwaderlapp hätten ihre Aufklärungspflicht verletzt. Rom hätte informiert werden müssen.
Woelki und der Fall O.
Nach Darstellung von Rechtsanwalt Gercke herrscht in einem wichtigen Punkt Einvernehmen zwischen ihm und den Autoren des vom Erzbistum Köln nicht veröffentlichten Münchner Gutachtens: Kardinal Woelki persönlich seien keine Pflichtverletzungen anzulasten, insbesondere nicht im Fall des ihm nahestehenden Düsseldorfer Pfarrers Johannes O. (im Gutachten: „Aktenvorgang 5“), dem ein sexueller Übergriff auf einen damals Fünfjährigen im Jahr 1977 angelastet wurde. Weder sei Woelki als Weihbischof 2011, als der Fall dem Erzbistum erstmals bekannt wurde, nachweislich detailliert über die Vorwürfe unterrichtet worden, noch habe er gegen Pflichten verstoßen, als er 2015 von einer Voruntersuchung absah, weil der schwer kranke Pfarrer nicht mehr ansprechbar war.
Woelkis Vorgänger Meisner hätte den Fall, so die Gutachter, 2011 nach Rom melden müssen. Für Woelki aber sei eine entsprechende Pflicht 2015 nicht erkennbar gewesen – erst 2020 habe die Glaubenskongregation in einem „Vademecum“ auch in so einem Fall eine Meldung für „ratsam“ erklärt. Dies, so Gercke, sehe die Münchner Kanzlei WSW genauso und habe dies Woelki im Frühjahr 2019 mitgeteilt, wie auch ein Aktenvermerk belege. Auch die Glaubenskongregation sieht das so, anders als viele deutsche Kirchenrechtler. „Die Meldepflicht gilt unbedingt, es gibt keine Ausnahme wegen Vernehmungsunfähigkeit“, sagt etwa der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller. (rn)