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Opfer klagt gegen Erzbistum„Ich wurde ausgezogen, gefesselt, kalt abgeduscht“

Lesezeit 5 Minuten
Dunkle Wolken über Köln

Wolken über dem Kölner Dom (Symbolbild)

Köln – Sein größtes Hobby sei die Fotografie. Das vertraute Erich J. einem Journalisten an, als er 2008 im Alter von 77 Jahren in den Ruhestand trat – als verehrter Pfarrer in Hürth-Efferen. J.s Opfer Georg Menne hat die Fotoleidenschaft des Pfarrers in den 1970 Jahren auch erlebt. Der Geistliche missbrauchte ihn sexuell und quälte ihn. „Ich wurde bis auf die Unterhose ausgezogen, gefesselt, kalt abgeduscht. Das diente dazu, zu testen, wie weit ich mitgehe“, sagte Menne dem WDR. Davon gebe es Fotos. Wie auch von inszenierten „Bestrafungen“, bei denen Jugendliche mit einem Sack über dem Kopf an einem Pfahl aufgehängt wurden.

Vier Jahrzehnte nach den Taten hat Georg Menne seine Entscheidung getroffen. Er verlangt Schmerzensgeld. 750.000 Euro. Am Freitag hat Mennes Bonner Anwalt Eberhard Luetjohann die Klage beim Kölner Landgericht eingereicht. Sie richtet sich nicht gegen J., das geht nicht mehr: Der Geistliche ist 2020 verstorben.

Anwalt erinnert an Weisungsrecht des Bischofs

Vielmehr nimmt Luetjohann namens seines Mandanten das Erzbistum Köln in die Pflicht. In der deutschen Rechtsgeschichte ist das ein seltener Vorgang, während in den USA Millionenklagen gängig sind (siehe Kasten). Im Fall von Menne ist das Erzbistum überdies auch der Arbeitgeber – er arbeitet als Pastoralreferent in der Krankenhausseelsorge. Der eingeklagte Betrag geht weit über die freiwillige Anerkennungsleistung von 25 000 Euro hinaus, die Menne bereits von der Kirche erhalten hat. Luetjohann: „Man hört oft, nach den Schmerzensgeldtabellen gebe es auch nicht mehr.“ Das stimme nicht. Unter anderem verweist er auf ein Wuppertaler Urteil von 2013, nach dem eine junge Frau 100 000 Euro nach einer Vergewaltigung erhielt. Allein Georg Menne sei in 320 Fällen von J. missbraucht worden.

USA

660Millionen US-Dollar an Schadenersatz hat das Erzbistum Los Angeles nach einer außergerichtlichen Einigung im Juli 2007 an 508 Missbrauchsopfer gezahlt. 2013 folgte ein weiterer Vergleich über zehn Millionen Dollar. Hohe Vergleichssummen gab es auch im Erzbistum Saint-Paul und Minneapolis (2018, 210 Millionen für 450 Opfer), in Boston (2003, 85 Millionen für 500 Kläger) und bei den US-Jesuiten (2011, 166 Millionen für 500 Opfer).

Seit 1972 war Erich J. Pfarrer in Köln-Bilderstöckchen. Er baute in dem Stadtteil ein Jugendzentrum auf und lud Jungen in sein Haus in der Eifel ein. Hier geschahen die Sexualtaten, die er später eingeräumt hat. Nach Luetjohanns Auffassung hätten der damalige Erzbischof Joseph Kardinal Höffner und seine Mitarbeiter diese Taten verhindern müssen. Anders als das Gercke-Gutachten festhalte, sei ein Pfarrer „immer im Dienst“, sagt Luetjohann der Rundschau: „Das erkennt man ja auch daran, dass er zumindest ein Kreuz an seiner Kleidung trägt.“ Der Bischof habe ein umfassendes Weisungsrecht. „Es gibt keinen privaten Bereich, in dem die Kirche für das Handeln ihrer Geistlichen nicht verantwortlich wäre.“ Vielmehr treffe sie eine Garantenpflicht, zu der sie nicht stehen wolle. Von Menschenwürde, sagt Luetjohann, sei ja auch im ganzen Gercke-Gutachten keine Rede, und die Seele komme nur in der Berufsbezeichnung des Seelsorgers vor.

Kirchenrechtler nennt Klage einen „wichtigen symbolischen Akt“

Der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht das Vorgehen von Menne und seinem Anwalt als „wichtigen symbolischen Akt“. Allerdings werde das Thema Garantenpflicht vom Bundesgerichtshof bisher sehr streng definiert. Schüller, der das Gercke-Gutachten durchaus kritisch sieht, attestiert ihm hier eine zutreffende Darstellung vorgelegt. Es gehe um den dienstlichen Zusammenhang, und der Arbeitgeber müsse von der bestehenden Gefährdung gewusst haben. Umso besser sei es, wenn das Landgericht jetzt kläre, wie weit die Garantenpflicht in der Kirche gehe. Auch Gutachter Björn Gercke und seine Co-Autorin Kerstin Stirner verweisen gegenüber der Rundschau auf ihre ausführliche Darstellung – „hinweggehuscht“ seien sie über das Thema Amtshaftung keineswegs.

In Bilderstöckchen war das Verhalten des Pfarrers J. offenbar kein Geheimnis. Gercke erwähnt die Aussage eines Gemeindemitglieds, man habe die Opfer vergeblich zu „vergattern“ versucht. Aber was wusste die Bistumsleitung? Sie erfuhr nachweisbar von den Vorwürfen erst im August 1980, als „sechs Herren“ (Gercke) aus J.s Gemeinde den damaligen Generalvikar Norbert Feldhoff ansprachen. Was dann passierte, bewertet Gercke als Pflichtverstoß von Höffner und Feldhoff: J. wurde lediglich aus Bilderstöckchen abgezogen und kam nach Vorstellung bei einem Psychiater und einer kurzen Zeit in der Krankenhausseelsorge als Pfarrer nach Troisdorf-Bergheim, später dann nach Efferen. Erst 2014, nach Bekanntwerden neuer Vorwürfe, erfolgte eine kirchliche Bestrafung: Der Ruheständler durfte das Priesteramt nicht mehr öffentlich ausüben und keine Schulen und Jugendeinrichtungen des Erzbistums mehr betreten.

Der Staatsanwaltschaft teilte die damalige Justiziarin des Erzbistums den Fall laut Gercke pflichtwidrig nicht mit. Er war allerdings auch verjährt. So hat sich J. nie vor einem weltlichen Gericht verantworten müssen. 2016 und erneut 2021, nach Veröffentlichung des Gercke-Gutachtens, rief das Erzbistum weitere potenzielle Opfer auf, sich zu melden.

Wie hätten die Taten verhindert werden können?

Wenn das Bistum aber erst 1980 von den Vorwürfen erfuhr, wie hätte es Taten in den 1970er Jahren verhindern können? Eine Pflicht des Bischofs zur „anlasslosen Überwachung“ von Pfarrern ohne konkrete Anhaltspunkte hatte Gercke abgelehnt. Luetjohann erinnert dagegen an den heiligen Petrus Damiani, der Bischöfe schon vor 1000 Jahren auf ihre Pflicht zum Opferschutz hinwies. Das Problem übergriffiger Geistlicher sei ja bekannt. Auch das Kirchenrecht verpflichte Bischöfe, auf ihre Priester zu achten: „Hat denn beim Bistum keiner gefragt, wieso der Mann sein Haus zum Jugendheim mit Sauna und Solarium ausbaute?“

Schüller befürchtet: „Das wird wohl nicht reichen“. Anders sei es etwa im Fall des kürzlich in Köln verurteilten Pfarrers Hans-Bernhard U., den das Bistum ja trotz deutlicher Hinweise auf seine Delikte weiterarbeiten ließ.

Außerdem zu klären: Zivilrechtlich sind die Ansprüche von Georg Menne verjährt – genau deswegen ist 2010 die Klage einer 40 Jahre zuvor als Kind sexuell missbrauchten Frau gegen das Bistum Würzburg gescheitert. Die Verjährung prüfe das Gericht aber nicht von sich aus, sagt Luetjohann: Das Bistum müsse sie geltend machen. Für ihn ist es moralisch unvorstellbar, dass die Juristen von Rainer Maria Kardinal Woelki so weit gehen, zumal man bei Anerkennungsleistungen (sie schließen Schmerzensgeldforderungen nicht aus) ausdrücklich verjährte Taten berücksichtige. Wie wird das Erzbistum sich also verhalten? Gestern gab es keine Stellungnahme – schlichter Grund: Der Klagetext liegt im Kölner Generalvikariat noch nicht vor.