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Die große NRW-AnalyseWie steht Schwarz-Grün nach 100 Tagen da?

Lesezeit 4 Minuten
Neubaur und Wüst

Die Koalitionspartner Mona Neubaur und Hendrik Wüst im NRW-Landtag. 

  1. Das erste Bündnis von CDU und Grünen in NRW begnügt sich vor allem damit, Forderungen in der Krise an den Bund zu adressieren.
  2. Bislang kommt die Regierung Wüst erstaunlich gut damit durch.

Düsseldorf – In den ersten 100 Tagen als Regierungschef der bislang einzigen schwarz-grünen Koalition der nordrhein-westfälischen Landesgeschichte hat Hendrik Wüst mehrfach einen recht banalen Satz gesagt, der aber viel von seiner Erfolgsformel verrät: „Die normalen Menschen müssen sich das normale Leben noch leisten können.“

In außergewöhnlichen Zeiten wie diesen bietet der CDU-Ministerpräsident also vor allem Normalität an. Keinen überbordenden Gestaltungsehrgeiz, kein schwarz-grünes „Projekt“, keine feurige Rhetorik, keinen ideologischen Überbau, keinen „Whatever it takes“-Führungsanspruch, sondern: geschmeidige Unaufgeregtheit.

Reicht das in einer für viele Betriebe und Bürger an Rhein und Ruhr existenziellen Krisenlage? Die Energiepreis-Explosion wegen des Ukraine-Kriegs hat den ökologisch-sozialen Umbau des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, den sich CDU und Grüne vorgenommen hatten, wohl auf Jahre in den Hintergrund gedrängt. Die staatlichen Ebenen müssen zunächst mit viel „Wumms“ die schlimmsten Wohlstandsverluste abfedern. Milliardenschulden machen die politischen Spielräume auf Länderebene zunehmend eng. Kriegszeiten sind außerdem Kanzlerzeiten. In Berlin spielt die Musik, weniger in Düsseldorf.

Keine Fehler machen

Wüst verlässt sich in dieser Lage auf eine Strategie, die ihn schon im Mai zum Landtagswahlsieg getragen hat: Er macht keine Fehler, zeigt sich allüberall auf Instagram-tauglichen Fotos und sendet verdauliche Botschaften („Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein“). Der frühere CDU-Hardliner ist außerdem längst anschlussfähig geworden in der Mitte der Gesellschaft, gibt den freundlichen Grünen-Versteher und sagte sich jüngst sogar öffentlich vom konservativen Markenkern seiner Partei los. Fast wie ein politischer Algorithmus lernt der NRW-Ministerpräsident aus Fehlern und passt sich den Publikumserwartungen an.

Politische Relaisstation

Schwarz-Grün regiert derweil in der Krise wie eine politische Relaisstation: Warnrufe aus Unternehmen, Vereinen, Kitas oder Familien werden aufgenommen, verstärkt und gleich nach Berlin weitergeleitet. „Der Bund muss…“ ist die am häufigsten genutzte Satzeinleitung der Landespolitik.

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Eigeninitiative? Anders als andere Bundesländer hat NRW bislang kein eigenes Rettungspaket geschnürt. Wie der Ausbau der Erneuerbaren Energien beschleunigt werden soll, ist nicht einmal in Umrissen erkennbar. Wohnen, Studieren und Pendeln werden unbezahlbar, ohne dass NRW auf eigene Faust einmal die Initiative ergreifen würde. Und die unbemerkt eskalierende Flüchtlingskrise bleibt ein Problem der Kommunen.

Bislang kein Zank

Die Opposition in NRW macht es schier wahnsinnig, dass Schwarz-Grün bislang damit durchkommt. Die Zustimmungswerte der Koalition sind stabil. Selbst als Wüst im Sommerurlaub auf der Sonnenliege entspannte, stiegen seine Popularitätswerte.

Aus für Lützerath: Klimaschützer protestieren

Nach der Leitentscheidung der schwarz-grünen Koalition zur Zukunft des Rheinischen Reviers formiert sich der Protest von Klimaaktivisten. Fridays for Future in NRW rief angesichts der besiegelten Räumung der Ortschaft Lützerath zu Widerstand auf. Für Freitag seien in zahlreichen Städten Demonstrationen geplant, etwa in Duisburg, Essen oder Dortmund, sagte Sprecherin Linda Kastrup der „Neuen Westfälischen“. „Die Landesregierung in NRW und RWE können sich sicher sein, dass wir ihre Entscheidung gegen Klimagerechtigkeit nicht hinnehmen und bis zur letzten Sekunde für Lützerath kämpfen werden“, versicherte Kastrup.

Auch in Lützerath selbst dürfte der Protest in den kommenden Monaten vermutlich Fahrt aufnehmen. Der Sprecher der Kohlegegner-Organisation „Alle Dörfer bleiben!“, Christopher Laumanns, zeigte sich vor allem von den Grünen tief enttäuscht. „Die Grünen verabschieden sich von der Klimabewegung: Sie wollen akzeptieren, dass unsere Region verwüstet und das Klima zerstört wird.“ Dass mehrere Dörfer im Gegensatz zu Lützerath nicht dem Bagger weichen sollen, sei schon vorher klar gewesen. „Wir werden das Dorf mit der gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung schützen, das wird ähnlich wie im Hambacher Forst“, kündigte Laumanns an. (dpa/EB)

Das hängt wohl auch damit zusammen, dass sich Schwarz-Grün wohltuend von der Zank-Ampel in Berlin unterscheidet. Meinungsunterschiede werden intern ausgefochten, die Partei-Egos gezügelt. Drohende Großkonflikte wie der Schulstart in Corona-Zeiten oder die Flurbereinigung in der Krankenhauslandschaft hat man einstweilen mit Verwaltungspragmatismus entschärft. Abzuwarten bleibt, wie sich die Folgen des gerade beschlossenen vorgezogenen Kohleausstiegs auswirken werden.

Unsicherheitsfaktor Merz

Wie lange die schwarz-grüne Harmonie trägt, ist schwer vorherzusehen. Je nach krisenhafter Zuspitzung des Winters könnte auch das Land von den Bürgern mal stärker gefordert werden. Möglicherweise wird Wüst auch bald aus dem komfortablen Windschatten der Bundespolitik gezerrt. Wenn CDU-Chef Friedrich Merz noch häufiger über „Sozialtourismus“ und gendernde „Volkserziehungsanstalten“ sinniert, könnte die Suche nach einem frischen Kanzlerkandidaten der Union schnell den Scheinwerfer nach Düsseldorf richten.