Im seit 1. Februar 2022 verhandelten Mammutprozess gibt es reichlich Volten und Wendungen. Zeit für eine Rückschau.
Spektakel in Köln vor dem EndeAnwälte in Wallung, genervte Anwohner und überall SEK – so lief der Drach-Pozess
Das Geräusch von Hubschrauber-Rotoren kündigt am Morgen jedes Prozesstags sein Kommen an. Seit über 20 Monaten wird der vermutlich berühmteste Schwerverbrecher Deutschlands, der frühere Reemtsma-Entführer Thomas Drach (62), von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei aus dem Gefängnis in Ossendorf zum Landgericht nach Sülz geflogen. Straßen werden dann gesperrt, der Berufsverkehr über die Luxemburger Straße ruht und staut sich. Für Anwohner, Pendler, Rechtsanwälte sowie Justizbeschäftigte eine große Belastung. Doch die könnte bald ein Ende haben.
Nach dem Willen der 21. Großen Strafkammer sollen die Prozessbeteiligten am kommenden Montag auf ihre Schlussvorträge vorbereitet sein. Ob es so kommt, steht in den Sternen. Im seit 1. Februar 2022 verhandelten Mammutprozess gibt es reichlich Volten und Wendungen.
Überfälle vor Ikea und am Flughafen
Bereits am ersten Verhandlungstag ist der Wurm drin. Stundenlang warten Journalisten und Zuschauer dicht gedrängt und mit FFP-2-Masken im Gesicht — damals hat Corona das tägliche Leben noch fest im Griff — im Treppenhaus vor Saal 112 vor der zusätzlich eingerichteten Sicherheitsschleuse. Mit erheblicher Verspätung beginnt der Prozess, in dem die Staatsanwaltschaft dem 62-Jährigen vier bewaffnete Raubüberfälle auf Geldtransporter von März 2018 bis November 2019 vorwirft.
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Bei den Überfällen vor Ikea-Märkten in Godorf und Frankfurt am Main sowie am Flughafen Köln/Bonn und vor einem Supermarkt im hessischen Limburg soll Drach knapp 230 000 Euro erbeutet haben. Weil er auch auf zwei Wertboten geschossen haben und diese erheblich verletzt haben soll, wird dem 62-Jährigen zudem versuchter Mord vorgeworfen.
Thomas Drach hüllt sich in Schweigen
Drach schweigt zu den Vorwürfen ebenso wie sein damaliger Mitangeklagter Eugen W. (54) aus den Niederlanden; sein Prozess wurde erst im Sommer aufgrund häufiger Erkrankungen vom Prozess gegen Drach abgetrennt. W.'s Prozess wird seither separat verhandelt. Dem Niederländer wird Mittäterschaft bei den Überfallen am Flughafen und in Limburg vorgeworfen. Er soll jeweils das später von den Tätern in Brand gesteckte Fluchtfahrzeug gefahren haben.
Doch zunächst spielt Corona die Hauptrolle. Im Februar, März und April 2022 entfallen wiederholt Prozesstage, weil notwendige Verfahrensbeteiligte infiziert sind. Erstmals richtig Fahrt nimmt der Prozess im Mai 2022 auf. Zeugen schildern ihre Erinnerungen an die Überfälle. Ein Zeuge hat so viel Pech, dass es kaum zu glauben ist. Gleich zweimal wird der Mann mutmaßliches Drach-Opfer — sowohl vor dem Ikea-Godorf als auch am Flughafen, wo ein Kollege von ihm angeschossen wird. Der Schwerverletzte, der ebenfalls aussagt, erklärt im Zeugenstand: „Ich träume jede Nacht davon.“ Auch der vor dem Frankfurter Ikea angeschossene Geldbote, der sich einen Schusswechsel mit dem Räuber liefert und schwer am Oberschenkel verletzt wird, macht einen gebrochenen Eindruck. Auf einen Rollator gestützt, kommt er in den Saal. Er gibt an, seit der Tat arbeitsunfähig zu sein.
Ins Stocken gerät der Prozess aber auch immer wieder, weil gegen den Vorsitzenden Dr. Jörg Michael Bern oder gleich die gesamte 21. Große Strafkammer Befangenheitsanträge gestellt werden. Bis heute ohne Erfolg.
Gutachter musste gehen
Im Juni 2022 sagt dann ein ehemaliger Mitgefangener von Drach aus, der 62-Jährige habe ihm gegenüber in der Haft drei der vier ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt. Drach wirkt erstmals angefasst und nervös, beschimpft den Zeugen als „Junkie“. Zudem berichtet der Zeuge über eine angeblich von Drach geplante weitere Entführung — mit der Entführung von Tabakkonzernerben Jan Philipp Reemtsma hatte Drach 1996 traurige Berühmtheit erlangt.
Hauptbelastungszeuge in dem Prozess ist aber ein Sachverständiger. Der Bild-, Video- und Digital-Forensiker George A. Rauscher will Drach auf den Videos von Überwachungskameras anhand seines „Watschelgangs“ als Täter identifizieren. Im September 2022 geht er von einer Wahrscheinlichkeit von „95 bis 99 Prozent, mit Tendenz zum niedrigeren Wert“ davon aus, dass die Raubüberfälle auf Werttransporter vor Ikea-Filialen in Köln und Frankfurt/Main sowie am Flughafen Köln/Bonn von Drach verübt wurden. Doch Rauscher scheidet später wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem Prozess aus. Auslöser waren 100 Euro, die er einem Reporter für eine genehme Berichterstattung in die Hand gedrückt haben soll. Über den Vorgang unterrichtet der Journalist eine Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, die das Ganze dem Gericht berichtet. Rauscher bestreitet, für das Gericht steht Aussage gegen Aussage. Doch in seiner Stellungnahme an das Gericht berichtet der Sachverständige über „Hass“-Gefühle, die er gegen die Verteidiger hege, was sein Aus in dem Verfahren bedeutet.
Die Suche nach Ersatzgutachtern führt rasch zum Erfolg. Die forensische Anthropologin Dr. Kerstin Kreutz und der Kölner Biomechaniker Prof. Wolfgang Potthast können gewonnen werden. Im Dezember 2022 gehen auch sie von einer Täterschaft Drachs aus, jedoch nicht mit jener hohen Wahrscheinlichkeit, die von ihrem Vorgänger noch attestiert wurde.
Drach droht Sicherungsverwahrung
Am Aschermittwoch 2023 wird es dann kurz komödiantisch: Der Prozesstag kann erst nachmittags starten, weil die Polizei Drach im Gefängnis „vergisst“. Der Vorsitzende Bern damals lakonisch: „Sie sehen, der Karneval ist noch nicht ganz zu Ende.“ Der Sommer 2023 ist dann vor allem von Auseinandersetzungen zwischen W.'s Verteidiger Heer und dem Gericht geprägt. Natürlich kämpfen die Verteidiger hart.
Für ihre Mandanten geht es um viel, wenn nicht gar alles. Drach muss bei einer Verurteilung mit Sicherungsverwahrung rechnen. W. droht eine Mindeststrafe von fünf Jahren. Doch zwischen Heer und Bern wird die Sache zunehmend persönlich. Von herablassenden Kommentaren bis hin zu beleidigenden Bemerkungen ist alles dabei. Vor allem Heer vergreift sich im Saal 112 zunehmend in Wort und Ton.
Das Landgericht droht Heer, ihm die Stellung als Pflichtverteidiger zu entziehen. Zunächst wird dann aber der Prozess von W. wegen dessen häufiger Verhandlungsunfähigkeit aufgrund seiner Schulterschmerzen abgetrennt. W. will dann angeblich im Drach-Prozess aussagen und wird als Zeuge geladen. Angeblich will er dem 62-Jährigen ein Alibi geben. Heer fordert vor der Zeugenvernehmung von W. aber — nach anderthalb Jahren Prozess — mehr Zeit, um die Aussage vorbesprechen zu können. Der Verhandlungstag, der letzte vor dem am kommenden Montag, endet, wie bereits viele zuvor, im Eklat.
Belastung für Anwohner
88Prozesstage fanden inzwischen statt, für die Anwohner bedeutet das fast jedes Mal Hubschrauberlärm am Morgen und am Nachmittag. Doch nicht nur der Lärm nervt die Anwohner. Gesperrte Straßen und seit vielen Monaten weniger Anwohnerparkplätze bringen die Nachbarn auf die Palme. Die Bürger regen sich besonders darüber auf, dass die Halteverbotszonen bleiben, auch wenn kein Drach-Prozess ist.
„Ich kann den Ärger der Anwohner verstehen. Aber es dient der Sicherheit“, betonte Landgerichtspräsident Roland Ketterle unlängst im Gespräch mit der Rundschau. Auch er selbst habe schon im Stau gestanden. „Es ist eine massive Einschränkung für das tägliche Leben“, sagte eine Anwohnerin. In absehbarer Zeit soll nun wieder Normaliltät rund um das Gericht einkehren. (ta)