Köln – Es klopft einmal von außen. Die Tür wird geöffnet. Die schwer bewaffneten Spezialkräfte bleiben vor der Saaltüre. In Begleitung von einem Justizwachtmeister betritt Thomas Drach um kurz vor halb elf Uhr den Saal 112 des Justizzentrums an der Luxemburger Straße. Zwei, drei Schritte sind es bis an seinen Platz, die er geschickt hinter dem kräftigen Wachtmeister zurücklegt.
An seinem Platz angelangt, dreht er den Fotografen und Kamerateams lässig den Rücken zu, lehnt sich leger mit dem Steiß an die Anklagebank und steckt mit seinen Verteidigern die Köpfe zusammen. Die Fotoapparate klicken und rattern, doch ein frontales Foto dürfte kaum einer ergattert haben. Drachs Auftritt wirkt abgeklärt, irgendwie routiniert. So, als wolle der ehemalige Reemtsma-Entführer den Journalisten bedeuten: „Freunde, das ist nicht mein erster medienwirksamer Prozess, ich kenne das Spiel.“
Seinen zweiten überraschenden Moment hat Drach wenige Minuten später, während der Feststellung seiner Personalien durch den Vorsitzenden Dr. Jörg Michael Bern. Drach bejaht, dass er am 11. Juni 1960 in Köln geboren ist, zuletzt keinen festen Wohnsitz hatte und sich nun in der JVA Köln befindet. Drach hebt wie ein Schuljunge den Finger und sagt: „Ich möchte eine Strafanzeige gegen die Staatsanwaltschaft stellen. Wegen Urkundenfälschung.“ Bern antwortet: „Ja. Aber ich erteile Ihnen nicht das Wort.“ Für eine Strafanzeige sei das Gericht nicht zuständig. Schon als die Fotografen noch Bilder von Drach machten, sagte der Angeklagte zu seinen Verteidigern: „Die haben die Unterlagen gefälscht“.
Von Beginn an ist Sand im Getriebe des Prozesses. Noch vor Anklageverlesung gibt es die erste Unterbrechung. Wolfgang Heer, Verteidiger von Drachs niederländischem Mitangeklagten (53), beklagt, sein Mandant habe Kopfschmerzen, brauche eine Tablette, bekomme aber kein Wasser. Der Prozess wird kurz unterbrochen.
Aber auch die allgegenwärtige Pandemie ist schnell ein Thema im Prozess. Anwalt Heer ist es zu voll und zu stickig im Saal. Alle müssen aus Infektionsschutzgründen den Saal verlassen. Die meisten warten dicht auf dicht im Vorraum des Saals. Sie scheuen sich, sich weiter zu entfernen, um nicht erneut durch die Saalkontrolle zu müssen. Die Fenster im Saal 112 können nicht geöffnet werden, sagt ein Wachtmeister. Wie vieles im Landgericht sind diese Fensteröffnungen ausnahmsweise nicht marode – sie haben einfach keine Öffnungen. „Wir sitzen hier wie im Kaninchenstall“, sagt Drach Anwalt Andreas Kerkhof schon vor dem Prozessbeginn. „Hier ist eine Verteidigung schlecht möglich. Es ist zu eng“, betont der Anwalt und hofft auf Besserungen. In der Pause werden schließlich drei neue mobile Luftfilter in den Saal geschoben und stehen nun mitten im Raum. Ein mobiler Luftfilter stand schon vor der Pause im Saal, aber er war zu laut. Auch die Akustik und die Sprechanlage lässt für die Verteidigung zu wünschen übrig. „Ich kann sie schlecht verstehen“, sagt Anwalt Heer. Der Vorsitzende Richter verspricht Besserung.
Drach ist einer der bekanntesten Verbrecher Deutschlands
Das Gericht müht sich, die Struktur des Verfahrens aufrecht zu erhalten. Auch, weil es es mit einem besonderen Angeklagten zu tun hat. Drach gilt als einer der bekanntesten Verbrecher Deutschlands. Bis heute wird sein Name mit der Entführung des Erben der Hamburger Tabak-Dynastie Reemtsma, Jan Philipp Reemtsma, im Jahr 1996 verbunden. Nach 33 Tagen ließ er sein Opfer frei – gegen ein Lösegeld von 15 Millionen D-Mark und 12,5 Millionen Schweizer Franken. Fast zwei Jahre lang lebte Drach danach luxuriös in Südamerika und wurde festgenommen, als er ein Konzert der Rolling Stones besuchen wollte. Für die Tat wurde er später zu mehr als 14 Jahren Haft verurteilt.
In Köln steht Drach nun abermals vor Gericht. Dem 61-Jährigen werden unter anderem versuchter Mord und besonders schwerer Raub vorgeworfen. 2018 und 2019 soll er bei vier Taten in Köln am Flughafen und bei Ikea in Godorf, Frankfurt am Main und Limburg Geldtransporter überfallen und dabei insgesamt rund 230 000 Euro erbeutet haben. In zwei Fällen - in Frankfurt und am Flughafen Köln/Bonn - habe er jeweils auf einen Wachmann geschossen. Beide Männer erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Bei den Taten habe Drach unter anderem mit einem Sturmgewehr gefeuert, so die Vorwürfe. Angeklagt ist er auch wegen eines Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.
Die Staatsanwältin betont ausdrücklich, wie sehr die Opfer nach den Überfällen litten und noch immer leiden. Ein Opfer bekomme immer Schweißausbrüche wenn er nur das Wort „Ikea“ höre, einem weiteren überfallenen Mitarbeiter eines Sicherheitsunternehmens gehe es gesundheitlich sehr schlecht. Der Mann leide unter „Flashbacks“ und werde immer wieder an den brutalen Vorfall erinnert, so die Staatsanwältin. Seit dem Überfall würden ein Opfer Panikattacken und Alpträume plagen. In seiner Vernehmung sagte der überfallene Transporter-Fahrer vom Kölner Airport bei der Polizei: Der Schuss habe ihm einen großen Teil seines Lebens genommen. Dramatisch sei dies auch, weil die damalige Beute nur 400 Euro betrug.
„Die Gesamtwirkung des Angeklagten Drach und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist“, sagt die Staatsanwältin. Deshalb sei Sicherungsverwahrung anzuordnen. Drach, mit Halbglatze und Dreitagebart, blättert derweil in seinen Unterlagen und tippt auf einem Laptop. Für den 61-Jährigen, der in Erftstadt bei Köln in einem gutbürgerlichen Elternhaus aufwuchs, geht es angesichts seiner Vita – zu der neben der Reemtsma-Entführung weitere Verurteilungen zählen – um sehr viel. Freispruch oder sehr lange Zeit hinter Gittern. Dazwischen ist wenig vorstellbar.
Anwälte nennen Vorwürfe der Anklage haltlos
Seine Anwälte erwarten einen Freispruch, wie sie vor dem Prozess bekräftigen. Die Vorwürfe seien haltlos und stützten sich auf lückenhafte Indizien. Im Prozess wolle sein Mandant von seinem Schweigerecht Gebrauch machen, kündigt Drachs Anwalt Kerkhof dem Gericht an. „Es gibt gar keine Beweissituation, die eine Verurteilung rechtfertigen könnte“, sagt er . „Es gibt ein paar vage Indizien, mehr aber auch nicht.“ Auch liege in dem ganzen Fall aus seiner Sicht eine Vorverurteilung vor. „Hätte der Mandant einen anderen Lebenslauf, müsste er sich hier nicht verantworten“, sagte Kerkhof.
Auch der Mitangeklagte will sich zur Sache nicht äußern. Sein Verteidiger sieht ebenfalls keine belastbaren Beweise. Der Dienstagnachmittag war den Anträgen gewidmet. Die Verteidiger der Angeklagten brachten mehrere Anträge ein. Darin geht es unter anderem um die Besetzung der Kammer, Tonaufnahmen aus der Verhandlung, ausreichende Akteneinsicht und die Frage, ob alle Interessierten Zugang zum Saal bekommen haben.
Vor dem Saal 112 kam es zu einem Disput zwischen einem Zuschauer und der Polizei. Bei dem Gespräch ging es unter anderem um das richtige Tragen der Maske. Die Beamten haben die Anordnung, die Corona-Regeln einzuhalten. Dies hatte auch der Vorsitzende im Gerichtssaal betont.
Für den Mammutprozess sind bisher 53 Verhandlungstage bis Ende September angesetzt – vermutlich reicht dies nicht. Anwalt Heer geht von bis zu 100 aus. Am 7. Februar geht der Prozess weiter – ob Drach wieder mit einer gepanzerten Limousine zum Gericht gebracht wird oder mit dem Hubschrauber ist noch unklar.
Schärfste Sicherheitsvorkehrungen in Köln
Kontrollen, Kontrollen und noch mehr Kontrollen – die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Drach-Prozess sind für Kölner Verhältnisse beispiellos. Als ein Mitglied der berüchtigten Juwelenbande „Pink Panther“ im Jahr 2017 auf der Anklagebank Platz nehmen musste, waren die Sicherheitsvorkehrungen schon erheblich – doch die Maßnahmen zum Prozessauftakt gegen Thomas Drach und seinen mutmaßlichen Komplizen sind wesentlich strenger. Die Polizei begründet die hohen Sicherheitsauflagen mit einem möglichen Befreiungs- und Fluchtversuch.
Anwälte, Journalisten und Zuschauer wurden mehrfach untersucht. Schon vor dem eigentlichen Gang durch die Sicherheitsschleuse am Eingang zum Inneren des Gerichtes mussten die Teilnehmer sich ausweisen, ihren 3-G-Status vorzeigen und dann ausschließlich mit einer FFP-2-Maske Richtung Saal 112 gehen. Vor dem Eintritt in den gesicherten Bereich vor dem Sitzungssaal mussten die akkreditierten Medienvertreter nochmals den Personalausweis und Presseausweis zeigen. Die Daten wurden bei der Polizeiabgefragt. Dann ging es einzeln in die nächste Sicherheitsschleuse. Dort mussten die Teilnehmer nochmals alle Taschen leeren und wurden abgesucht.Verteidiger kritisiert strenge SicherheitsmaßnahmenDoch damit nicht genug: Beim Gang in den Saal gab es eine neuerliche Kontrollen der Person. Erst als diese Kontrolle überwunden wurde, konnte man auf seinem zugewiesenen Stuhl Platz nehmen. „Wir danken für ihre Geduld. Wir danken für ihr Verständnis“, sagte eine Mitarbeiterin der Pressestelle des Landgerichtes immer wieder, als sie durch das Treppenflur ging, in dem die Journalisten eine lange Zeit auf den Gang in den Saal und die Überprüfungen warten mussten.
Drach Verteidiger Andreas Kerkhof hatte sich vor dem Prozess die strengen Sicherheitsmaßnahmen moniert. Auch Anwalt Wolfgang Heer wollte von der Einsatzleitung der Polizei wissen, warum es diesen riesigen Polizeiaufwand gibt.Es ist zu vermuten, dass es bei den kommenden Prozesstagen erneut hohe Sicherheitsvorkehrungen gibt.
In der kommenden Woche gibt es weitere drei Prozesstage . Viele Kölner müssen sich in den Morgenstunden und bei der Abreise des Angeklagten mit Straßensperrungen rechnen. Am Dienstagmorgen hielten sich die Verkehrsbehinderungen aber in Grenzen. Wie Drach zum Gericht gebracht wird, entscheidet die Einsatzleitung kurzfristig und lageangepasst. Die Routen von Ossendorf zur Luxemburger Straße werden häufig geändert und sind Geheimsache. (ta/bks)