- Auch Köln war in den 20er und 30er Jahren geprägt von politischen Unruhen, aber auch einer großen Lust am Leben.
- In einer Serie schildern wir spektakuläre Kriminalfälle dieser Zeit.
Köln – „Verwunschenes Schloss“ nannten die Nachbarn ein gespenstisches Anwesen in Köln-Riehl, Am Botanischen Garten 1, das unmittelbar an die Flora grenzte. Von hohen Hecken und Mauern umgeben stand es innerhalb eines völlig verwilderten und überwucherten Gartens, über tausend Quadratmeter groß, in dem etliche Katzen, Enten und Hühner frei herumliefen. Eine Klingel gab es nicht. Ein Schild informierte, dass nur eingelassen würde, wer sich vorher schriftlich angemeldet hatte.
1934 wohnte hier schon seit 33 Jahren die 68 Jahre alte Gertrud Graß, geborene Pilgram. Überaus reich war die allerorts als zumindest merkwürdig, wenn nicht sogar unleidlich beschriebene Juwelierswitwe, deren Ehemann 1922 verstorben war. Ihr einziger Sohn hatte eine Schaureiterin vom Zirkus Holzmüller heiraten wollen und sich, als seine Mutter ihm dies streng untersagte, Weihnachten 1925 in seinem Zimmer im obersten Geschoss des Hauses erschossen. Erst Tage später hatte ihn eine Haushaltshilfe gefunden. Von da an sei es mit Witwe Graß endgültig bergab gegangen, berichteten Freunde und Bekannte. Bei ihren wenigen Gängen in die Stadt oder nach Melaten zu den Gräbern von Ehemann und Sohn fiel sie durch heruntergekommene Kleidung und einen beißenden Geruch auf, der allerorts auf die mehr als mangelnde Körperpflege zurückgeführt wurde.
Mit dem Hausfreund schließlich auch das Schlafzimmer geteilt
Mit ihr im Haus lebte seit 1926 ein ehemaliger Freund ihres Sohnes, der 42 Jahre alte Landwirt Josef Ludwig. War er anfangs noch gepflegt gewesen, vernachlässigte er sich mit der Zeit ebenso wie jene Frau, mit der er schließlich das Schlafzimmer teilte. Fremde gingen wie selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den beiden um ein Ehepaar handelte. Eine Hausangestellte sollte später vor Gericht bezeugen, sie habe Ludwigs nie anders kennengelernt als „Herrn Graß“. Zu Frau Graß habe Ludwigs „Frau“ gesagt. Andere sollten aussagen, Ludwigs habe vom Haus am Botanischen Garten immer nur von seinem „Schloss“ oder seiner „Burg“ gesprochen. Tatsächlich hatten sich Graß und Ludwigs 1932 gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt.
Am 5. September 1934 wurde Gertrud Graß letztmals gesehen. Dann verschwand sie einfach von der Bildfläche. Wenn sich jemand nach ihr erkundigte, wimmelte ihn Ludwigs ab: Sie sei krank und nicht zu sprechen. Aber warum dann berichtete eine Haushaltshilfe, die nach dem Mittagessen das Geschirr spülte, dass nie ein Teller für Frau Graß dabei gewesen sei? Warum hatte sich Ludwigs Mitte August 1934 beim Uhrmacher Stark einen Revolver geliehen und Anfang September zurückgebracht – angeblich, um ein krankes Pferd zu erschießen, das es aber gar nicht gab?
Und wie kam Ludwigs plötzlich dazu, allabendlich durch die diversen Kneipen und Nachtlokale Kölns zu ziehen, wo er sich als vermögenden Gutsbesitzer ausgab und mit locker sitzendem Geldbeutel teils wildfremde Menschen einlud, obwohl doch die Witwe Graß für ihren maßlosen Geiz berühmt war und er kaum eigenes Geld hatte? Hans Heitger, Kellner in der „Zigeunerburg“, eines dieser Etablissements, sollte vor Gericht berichten, Ludwigs sei ihnen allen ein großes Rätsel gewesen, sie hätten ihn für einen Sonderling gehalten. Als er einmal von Ludwigs heimgekommen worden war, habe er gefragt, ob er sich das Anwesen näher anschauen könne. Dann würde er das Grauen bekommen, habe Ludwigs geantwortet. Er gäbe ihm 1000 Mark, wenn er es wagen würde, allein durch das Haus zu gehen. Heitger erklärte sich dazu bereit, aber Ludwigs nahm ihn nur in den Keller mit, um Wein zu holen. Frau Graß bekam niemand dieser neuen Bekanntschaften je zu Gesicht.
Zimmer für Zimmer durch den Modergeruch
Schließlich wurde die Polizei aufmerksam. Als Oberwachtmeister Friedrich Jankowski und Hauptwachtmeister Theodor Mentzel am 17. November 1934 nach dem Rechten sehen kamen, standen sie vor verschlossen Türen. Sie kletterten über den Zaun. Im Garten trafen sie auf zwei Arbeiter, die sie hinein zu Ludwigs brachten. Als sie diesem sagten, dass sie Frau Graß sprechen wollten, erwiderte Ludwigs, das ginge nicht, Frau Graß sei sehr krank.
Nach langem hin und her wurde es Jankowski zu bunt. Dann werde er eben auf eigene Faust nach Frau Graß suchen. Ludwigs sprang auf und rief, er dürfe aber nicht allein gehen. Jankowski befahl nun dem Schreiner Barthel Litt, der wegen Renovierungsarbeiten im Haus war, als Zeugen mitzukommen, während Mentzel Ludwigs zurückhielt. Von diesem Augenblick an, so sollte Jankowski vor Gericht aussagen, habe er damit gerechnet, die Leiche der Frau zu finden. Zimmer für Zimmer ging es durch das von Modergeruch durchzogene Haus. Nur Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer schienen bewohnbar, der Rest war teils bis zur Decke mit Möbeln, Lumpen und Müll angefüllt. Ein Teil der Decken im obersten Geschoss waren eingebrochen. Gertrud Graß jedoch war nirgends zu finden.
Dem Untersuchungsrichter sollte Ludwigs später sagen, Jankowski sei ihm unsympathisch gewesen, so dass er ihn erst habe suchen lassen wollen. Deswegen habe er ihm erst danach eröffnet, dass Witwe Graß verreist sei. Wohin, würde er nur dem Reviervorsteher sagen. Also nahmen ihn die Polizisten mit auf die Wache. Dort gab Ludwigs zu Protokoll, Frau Graß sei am 27. Oktober 1934, 16 Uhr, nach Borkum abgereist. „Das ist doch erstaunlich“, erwiderte Hauptmann Hans Göddertz: „Nach Borkum, mitten im Winter?“ Sie habe dort Verwandte, entgegnete Ludwigs, sie sei schon öfter fort gewesen, manchmal drei Wochen, auch vier Wochen. Sie werde schon wiederkommen.
Zeugen erinnern sich an „Widerlicher Geruch nach Menschenfleisch“
Die Polizei versiegelte das Graß'sche Haus und schaltete eine Vermisstenanzeige. Etlichen Spuren ging man nach. Man grub den Garten um, ließ den Ententeich vor dem Stallgebäude ab, forschte vergeblich auf Borkum nach ihren Verwandten und durchkämmte die Krankenhäuser und Klöster. Keine Spur von Gertrud Graß. Aber im Haus, auf einer Bettvorlage sowie Handtüchern und Lappen, fand sich Menschenblut. Ludwigs habe wohl, mutmaßte die Polizei, die Leiche zerstückelt. Teils habe er sie wohl in den Rhein geworfen, teils in einem dann an Althändler Feibisch Bunn verkauften Herd verbrannt.
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Vor Gericht fanden sich tatsächlich Zeugen, die in der Nähe des Graß'schen Anwesens einen „widerlichen Geruch“ nach Menschenfleisch und verbranntem Kadaver bemerkt haben wollten. Nach spektakulärem Schwurgerichtsprozess forderte die Verteidigung Freispruch, da weder eine Leiche noch sonstige eindeutige Beweise gefunden worden seien. Die Staatsanwaltschaft aber zeigte sich von Ludwigs Schuld überzeugt und forderte die Todesstrafe. Am Samstag, 4. Juli 1936, kurz nach 19.30 Uhr, verkündete das Kölner Schwurgericht nach dreistündiger Beratung das Urteil: 15 Jahren Zuchthaus für Totschlag. Witwe Graß tauchte nie wieder auf. Und auch das verwunschene Schloss in Riehl ist mittlerweile verschwunden.