Corona-Beschlüsse auf dem PrüfstandWie überzeugend ist Merkels Stufenplan?
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Kanzlerin Angela Merkel wagt die Kehrtwende: Ab Montag geht es aus dem Lockdown. Ist das eine gefährliche Wildwestpolitik, wie die Grünen fürchten? Oder kommen die Lockerungen keinen Tag zu spät, wie die FDP meint? Die Beschlüsse auf dem Prüfstand:
Was soll jetzt wieder erlaubt werden?
In Regionen mit niedrigen Inzidenzen unter 50 werden schon am Montag – unter strengen Auflagen – Geschäfte, Museen, Galerien und Sportplätze (für Einzelsport) wieder aufgemacht. Das wäre in etwa jedem dritten Landkreis. In Regionen unter 100 Neuansteckungen pro 100000 Einwohnern – das sind die allermeisten – wird Shoppen immerhin mit vorheriger Terminbuchung wieder möglich.
„Wir können von Hoffnung und dem Übergang in eine neue Phase sprechen“, erklärte eine überraschend öffnungswillige Kanzlerin nach den Marathonverhandlungen mit den Länderchefs. Drei Wochen zuvor hatte Merkel noch auf maximale Eindämmung gesetzt, die Messlatte für Lockerungen von 50 auf 35 Neuansteckungen pro 100000 Einwohner gesenkt.
Auch Biergärten, Theater, Kinos und Fitnessstudios können am 22. März aufmachen, wo das Infektionsgeschehen unter 50 geblieben ist. Bei stabilen Inzidenzen von unter 100 dürfen Besucher mit Terminbuchung in den Biergarten und mit negativem Schnelltestergebnis ins Studio und Kino. Und ab Montag – so das Gipfel-Versprechen – wird es genug Schnelltests geben.
Deutschland macht sich locker: Weitere zwei Wochen später, also am Ostermontag, werden in weiterhin fast Corona-freien Regionen auch Freizeitveranstaltungen mit 50 Teilnehmer zugelassen. So lange muss auch der Einzelhandel überall dort warten, wo die Inzidenz noch über 50, aber wenigstens stabil unter 100 liegt.
Für Restaurants, Hotels und Kulturveranstaltungen gibt es hingegen noch immer kein Öffnungsdatum, egal, wie niedrig die Infektionszahlen sind. Das soll frühestens beim nächsten Corona-Gipfel am 22. März vereinbart werden. Die betroffenen Branchen schäumen am Donnerstag vor Wut.
Gibt es mehr Freiheit im privaten Umfeld?
„Die Leute haben die Schnauze voll“, hatte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) vor dem Gipfel unverblümt ausgesprochen, was das aktuelle Lebensgefühl vieler Menschen im Land wohl ziemlich treffend beschreibt. Dass jetzt wieder Treffen von zwei Haushalten erlaubt sind, und ab einer Inzidenz von unter 35 sogar mit drei Haushalten und bis zu zehn Personen, dürfte auch der sinkenden Akzeptanz der Maßnahmen geschuldet sein. „Es soll sich auch lohnen, Infektionen nicht weiterzugeben“, versucht sich Merkel nun als Motivatorin.
Ein kleines bisschen mehr Freiheit im Privaten wird es also geben. Allerdings auch eine „Notbremse“: Steigt die Inzidenz an drei Tagen wieder über 100, gelten wieder die alten Regeln: ein Haushalt und eine weitere Person.
Für das große Familienfest Ostern hat sich allerdings das Team „Vorsicht“ durchgesetzt. Während es in einem ersten Entwurf für das Treffen noch hieß, dass „das besonnene Verhalten während der Weihnachtsfeiertage eindrucksvoll gezeigt hat, wie Familienzusammenkünfte sicher gestaltet werden können“, heißt es jetzt: Keine Verwandtenbesuche an Ostern über die beiden Haushalte hinaus.
Viele Bürger dürften enttäuscht sein, zumal auch das Reisen im In- und Ausland nicht stattfinden soll. Kleiner Hoffnungsschimmer: Wahrscheinlich ist, dass über das Thema am 22. März noch einmal gesprochen wird. Spontan-Trips zu den lieben Verwandten könnten also doch noch möglich sein. Fazit für den Moment: Die Leine wird gelockert, aber sie bleibt dran.
Wie soll das Impfen beschleunigt werden?
Nachdem erst zu wenig Impfstoff geliefert wurde, baut sich längst ein neues Problem auf: Von den 10,4 Millionen eingetroffenen Dosen waren am Dienstag erst 6,6 Millionen verimpft. Ein Grund ist die breite Skepsis gegenüber dem Astrazeneca-Impfstoff. Die Ständige Impfkommission hat diesen am Donnerstag auch für Über-65-Jährige zulassen. Auch soll ab Ende März in Hausarztpraxen geimpft werden und nicht mehr allein in Impfzentren und durch mobile Impfteams.
Außerdem wird die Spanne zwischen Erst- und Zweitimpfung verlängert, damit mehr Menschen ihre erste Spritze erhalten können, denn diese reicht laut Studien schon für eine weitgehende Immunisierung aus. In absehbarer Zeit könnten Impfzentren auch an sieben Tagen die Woche – also auch an den Wochenenden – offen sein, erklärte die Kanzlerin. So soll das Tempo verdoppelt werden. Aber ob es wirklich gelingt, noch vor September allen Bürgern ein Impfangebot zu machen, wollte Merkel nicht versprechen.
Was können die neuen Schnelltests bringen?
Viel. Ab dem 22. März sollen negative Schnelltestergebnisse zur Eintrittskarte für Biergärten, Theater oder Fitnessstudios werden, wo die Inzidenzwerte stabil unter 100 liegen. Bis dahin müssen die Länder die Organisation der Schnelltestungen, für die geschultes Personal notwendig ist, hinbekommen. Das Versprechen des Gipfels: Ab dem 8. März sind die Schnelltests da, einer für jeden pro Woche.
Auch für Schulen und Kitas sollen regelmäßige Schnelltests von Personal, Kindern und Jugendlichen die Rückkehr zum Präsenzunterricht absichern. Sehnlichst werden auch Selbsttests für Laien erwartet, für die kein Fachpersonal gebraucht wird. Zwar sind erste Laientests zugelassen, Aldi und andere Discounter wollen sie bereits in wenigen Tagen verkaufen. Breit verfügbar sind sie aber womöglich erst ab dem 1. April.
Werden jetzt mehr digitale Instrumente genutzt?
Hier stand das Land seit Monaten auf der Stelle, nun soll es ganz schnell gehen: Bis Montag sollen sich die Länder auf ein einheitliches System der digitalen Kontaktnachverfolgung einigen, als Favorit gilt die von der Veranstaltungsbranche entwickelte App „Luca“. Vor dem Masseneinsatz müssen die Länder allerdings ihre Corona-Schutzverordnungen anpassen, und die Gesundheitsämter müssen diese Systeme integrieren. Eine digitale Eventregistrierung mit QR-Codes soll – so das Versprechen von Gesundheitsminister Jens Spahn – nach Ostern kommen.
Zu leichtsinnig oder zu vorsichtig?
Mit dem komplizierten Stufenplan beschreiten Bund und Länder einen schmalen Grat. Denn die Corona-Mutationen sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (Bild) warnt deshalb, durch die geplanten Lockerungen werde sich bis zum April die dritte Welle aufbauen, und dann werde ein neuer Lockdown kommen.
Aber auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder – bisher einer der ganz Vorsichtigen – zeigt sich optimistisch, dass durch Massentests und mehr Impftempo Corona trotz Lockdown-Exit in Schach gehalten werden kann. Er gibt nach der Gipfelnacht das Ziel aus, bis Ostern 90 Prozent der Schüler wieder in den Unterricht zu schicken.
Das größte Risiko besteht darin, das Virus aus den Regionen herauszuhalten, in denen dank niedriger Ansteckungsraten schon früher als andernorts geöffnet wird. Schnelle Lockerungen auch dort, wo das Virus noch weit verbreitet ist, könnten einen neuen Flächenbrand entfachen. Sachsen gehen die Öffnungen daher auch zu weit, das Land besteht auf einem „funktionierenden Testregime“.
Für das Eingehen des Risikos spricht, dass die besonders Gefährdeten bald alle geimpft sind. Die Zahl der Intensivpatienten und Todesopfer ist – trotz Mutanten – gesunken. Wenn es wärmer und sonniger wird, sinkt die Virusgefahr weiter. Aber wenn Kitas, Schulen und Geschäfte gleichzeitig öffnen, kann Corona auch schnell wieder durchstarten. (rl/tob)