Setzte sich Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit der Aussage „Pandemie der Ungeimpften“ über die Wissenschaft hinweg? Einige geleakte RKI-Protokolle geben nun Aufschluss.
Geleakte Corona-ProtokolleJens Spahn, das RKI und die „Pandemie der Ungeimpften“
Es war eine folgenreiche Formulierung, zu der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Corona-Herbst 2021 wiederholt gegriffen hat. „Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften – und die ist massiv“, sagte der CDU-Politiker, unter anderem auch in einer Pressekonferenz am 3. November.
Es dauerte nicht lange, bis dieser Satz auch von anderen Politikern, Medien und gesellschaftlichen Akteuren aufgriffen wurde, und das in einer ohnehin aufgeheizten Stimmung. Denn zu jener Zeit, als die vierte Corona-Welle anrollte und die Impfquote stagnierte, wurde erbittert darüber gestritten, inwieweit Ungeimpften weniger Freiheiten zugestanden werden sollten als Geimpften.
Auch Geimpfte können das Coronavirus übertragen
Nun, fast drei Jahre später, sorgt Spahns Aussage erneut für Aufsehen: In dieser Woche wurden die Protokolle der Krisenstabssitzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) geleakt, ungeschwärzt und den Großteil der Pandemiezeit abdeckend. In diesem Dokumentenpaket, dessen Echtheit bislang nicht bestätigt ist, findet sich auch das Protokoll einer Sitzung vom 5. November, zwei Tage nach der Spahn-PK.
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Unter dem Tagesordnungspunkt „Kommunikation“ steht dort: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei.“ Vor allem in den Sozialen Netzwerken wird dieser Auszug nun als Beleg dafür herangezogen, dass die Politik sich in ihrer Strategie, die Menschen zur Impfung zu drängen, lange nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse geschert habe.
Aber taugt der Auszug tatsächlich als „Beweisstück“? Dass auch Geimpfte das Virus durchaus übertragen können, mithin ebenfalls einen Teil zum Infektionsgeschehen beitragen, war damals bereits bekannt. Im betreffenden Protokoll heißt es daher auch an anderer Stelle: „Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen.“
RKI war wohl nicht glücklich über Spahns Formulierung
Gleichwohl war der Anteil der Geimpften an der allgemeinen Infektionslage überschaubar. Noch in derselben Sitzung, in der die Spahn-Aussage thematisiert wurde, hieß es dem Protokoll zufolge: „Normalerweise wäre es kein Problem, wenn Personen mild oder asymptomatisch infiziert werden. Die hohe Anzahl Ungeimpfter ist das Problem.“
Und nur wenige Wochen später, am 3. Dezember, schätzt der RKI-Krisenstab, dass selbst bei einer sehr gering angesetzten Impfeffektivität 84 Prozent der Neuinfektionen „durch mindestens einen Ungeimpften zustande“ kämen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das RKI – das sich zu den Inhalten der geleakten Protokolle bislang nicht äußert – in erster Linie formal an der Aussage „Pandemie der Ungeimpften“ stieß, weil sie die Virusübertragungen durch Geimpfte ausklammert.
In der Krisenstabssitzung vom 5. November ging es auch um die Frage einer öffentlichen Erklärung: „Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“, heißt es im Protokoll. Die Antwort folgt in Stichpunkten: „Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen“, und: „Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“ Glücklich war man im RKI also nicht mit der Formulierung, nahm sie aber hin, vielleicht auch widerstrebend.
Es ist durchaus denkbar, dass das Institut dem Minister nicht in die Parade fahren wollte – denn im Ziel, dass die Zahl der Geimpften möglichst schnell steigen müsse, war man sich ja einig; die Frage, wie sich Ungeimpfte zur Immunisierung bewegen ließen, taucht in den RKI-Protokollen immer wieder auf.
Im November 2021 verharrte die Impfquote bei rund 67 Prozent, 80 Prozent Durchimpfung galten aus wissenschaftlicher Sicht aber als nötig, um eine ausreichende Grundimmunität zu erreichen. Als „Beweis“ dafür, dass bei der Impfkampagne gegen das Coronavirus „gelogen“ wurde, taugen die Protokolle daher nicht – eher als Beleg, dass verkürzte und überspitzte politische Schlagworte einerseits und die Kommunikationsstrategien wissenschaftlicher Einrichtungen andererseits nicht denselben Regeln folgen. Wirklich überraschend ist das allerdings kaum.
Jens Spahn ist Kritik an der Formulierung „Pandemie der Ungeimpften“ entgegengetreten. „Damit war gemeint bei mir, dass wir auf den Intensivstationen damals vor allem Menschen ohne Impfungen gesehen haben, die schwere und schwerste Verläufe hatten“, sagte der CDU-Politiker dem ZDF. Das sei eine Situation gewesen, „die das Gesundheitssystem zu überfordern drohte“. (mit dpa)