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Interview

Ärztechef Gassen
„Man hat diejenigen, die sich nicht haben impfen lassen, zu sehr stigmatisiert“

Lesezeit 5 Minuten
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)

Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)

„Dafür sollten sich viele schämen“: Ärztechef Gassen verurteilt den Druck auf Nichtgeimpfte in Corona-Zeit – und äußert sich zu den RKI-Files.

In der Corona-Zeit warb Andreas Gassen (62) für den „Freedom Day“, also die Aufhebung aller Eindämmungsmaßnahmen. Im Rückblick auf die bleiernen Pandemie-Jahre erhebt der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und Chirurg aus Düsseldorf im Interview mit Tobias Schmidt massive Vorwürfe im Umgang mit Impfgegnern. Trifft seine Kritik zu?

Herr Gassen, die Veröffentlichung der ungeschwärzten RKI-Files zur Corona-Pandemie sorgt für Aufregung. Auch bei Ihnen, denn Sie waren ja oft ganz anderer Meinung als der Krisenstab?

Es war abzusehen, dass irgendwann mal jemand die Geduld verliert und die Dokumente durchsticht. Hätte das Robert-Koch-Institut von sich aus für Transparenz gesorgt, wäre das allemal besser gewesen. Von einer echten Aufarbeitung kann man jedenfalls nach wie vor nicht sprechen. Das ist schade, denn sie würde uns guttun. Gerade weil es laut einer großen Multiverse-Analyse offenbar noch immer keine überzeugenden Daten gibt, um beurteilen zu können, welche Maßnahmen gut und welche schlecht waren, auch wenn der ein oder andere anderes behauptet.

Zur echten Aufarbeitung kann sich die Ampel nicht durchringen.

Ja, und das ist sehr bedauerlich und verspielt weiteres Vertrauen. Ich plädiere nach wie vor für eine Enquetekommission. Sie könnte ohne Besserwisserei und hidden Agenda die Entscheidungen der Politik, aber auch die wissenschaftlichen Empfehlungen aufarbeiten. Letztere waren ja auch alles andere als unproblematisch. Das würde nicht nur helfen, die aufgerissenen Wunden endlich zu heilen. Das könnte auch helfen, uns besser auf eine mögliche nächste Pandemie vorzubereiten. Denn festzuhalten ist ja auch: An den dramatischen wirtschaftlichen Konsequenzen der Lockdowns leidet das Land noch immer.

Top-Aufreger nach der Veröffentlichung war Jens Spahns Klage über eine „Pandemie der Ungeimpften“. Dass ein Politiker mit klarer Sprache rausgeht, um für das Impfen zu werben, war das wirklich verwerflich?

Es gab viel drastischere Positionen bis hin zu Forderungen, Ungeimpfte aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Spahn war da sprachlich bei Weitem nicht der Schlimmste. Heute wissen wir: Das Thema Impfen wurde teilweise überhöht. Die wissenschaftlich fundierten Empfehlungen der Ständigen Impfkommission – nicht der politische Wille – hätten alleinige Grundlage sein sollen. Impfungen haben weder zuverlässig in jedem Fall vor Erkrankungen geschützt, noch haben sie verhindert, dass Geimpfte das Virus an andere übertragen haben. Trotzdem hatte das Impfen grundsätzlich seinen Wert. Aber ja: Man hat diejenigen, die sich nicht haben impfen lassen, zu sehr stigmatisiert. Denken Sie beispielsweise an den Umgang mit Fußballspieler Joshua Kimmich. Dafür sollten sich viele schämen, die mit teils inquisitorischer Rechthaberei unterwegs waren.

Die WHO warnt gerade, in den Risikogruppen sei die Corona-Impfrate dramatisch gering. Sind die Impfungen nicht verdammt wichtig?

Doch, natürlich. Ich bin grundsätzlich ein großer Fan von sinnvollen Impfungen, ob gegen Corona, Influenza oder andere Viren. Sie sind ein Segen der Medizin und haben unzählige Menschen vor dem Tod gerettet. Und das Impfen gegen Corona für Risikogruppen, also Hochbetagte und Vorerkrankte, war und ist enorm wichtig und sinnvoll. Dass die Vakzine für diese Personen gewirkt haben, gerade um schwere Verläufe zu verhindern, steht außer Frage. Aber die Aussage, wer nicht geimpft ist, trage Schuld an Ansteckungen und Todesfällen anderer, ist nicht gedeckt. Spahns Spruch von der „Pandemie der Ungeimpften“ würde ich im Ranking der Grausamkeiten aber allenfalls im Mittelfeld ansiedeln. Ganz oben auf der Liste stehen für mich die vielen Rufe nach einer Impfpflicht und die zu ergreifenden Sanktionen gegen Impfunwillige.

Viele haben das Impfen überhöht. Es gab aber auch völlig überzogene Warnungen vor den neuen Impfstoffen. Was hat dem rationalen Umgang mit Impfungen mehr geschadet, Impf-Apologeten oder Verschwörungstheoretiker?

Schwer zu sagen. Die Bandbreite war schon irre. Es gab welche, die behauptet haben, wir bekommen einen Chip eingepflanzt und laufen dann nur noch rechts- oder linksherum, je nachdem, auf welchen Knopf Bill Gates drückt. Auf der anderen Seite wurde uns weisgemacht, wir könnten nach der Impfung quasi über Wasser laufen, ohne Schaden zu nehmen. Und das Theater auf Social Media hat zur Verunsicherung beigetragen. Die Menschen wurden von einem Wechselbad der Gefühle ins nächste geworfen und wussten teils nicht mehr ein noch aus. Bei mir bleiben zwei Überzeugungen: Wir werden nicht von Reptilien regiert. Und Impfen ist eine schicke sinnvolle Sache. In einer solchen Situation hilft sachliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen.

Was Jens Spahn noch in den Klamotten hängt, war die unorthodoxe Beschaffung von Masken zu Beginn der Pandemie. Wie skandalös waren die Verträge?

Die Diskussion über die hektische Maskenbeschaffung ist überzogen, und die Vorwürfe an Spahn und seine Mitarbeiter halte ich für unfair. Es gab zeitweilig ja sogar eine Pflicht zum Tragen von Masken an der frischen Luft – verrückt genug! Wir haben als KV-System selbst verzweifelt versucht, Masken für die Arztpraxen aufzutreiben, wo sie sehr dringend gebraucht wurden. Aber es gab schlicht nichts. Ob Spahns Ausschreibungen letztlich 100 Prozent formal korrekt waren, kann ich nicht beurteilen. Aber erst nach Masken zu schreien und später das hemdsärmelige Vorgehen zum Skandal zu machen, ist wohlfeil. Was hätte Spahn denn machen sollen? In Europa wurden keine Masken hergestellt. Das Zeug kam aus Fernost, dort herrschten teils Wildwest-Methoden.

Klar, es wurde viel zu viel Geld für Masken und für Impfstoffe ausgegeben. Aber es war ein Ausnahmezustand. Wichtiger als die Rachegelüste des ein oder anderen zu befriedigen, wäre es, die notwendigen Lehren zu ziehen, um uns für das nächste Virus zu wappnen.

Die da wären?

Erstens: Den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken und enger einbinden. Zweitens: Einen Pandemie-Notfallplan aufstellen, damit jeder weiß, was er wann zu tun hat. Und drittens brauchen wir eine kluge Bevorratung von Schutzausrüstung. Viel mehr kann man nicht tun. Das Horten von Impfstoffen wäre wenig zielführend. Denn wie das nächste Virus aussieht, weiß kein Mensch.