Kommentar zum NRW-VertragWarum die Grünen den Regierungskurs in NRW bestimmen
Düsseldorf – Gemessen an der historischen Dimension, die der erste schwarz-grüne Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen darstellt, trägt er einen ziemlich schlichten Titel: „Zukunftsvertrag“. Mehr Politprosa sollte nicht sein. Womöglich hätte man sonst schon auf dem Deckblatt erkennen können, dass es sich in Wahrheit um eine „Avocado-Koalition“ handelt: außen schwarz und innen grün.
Die Grünen haben aus einem fulminanten Wahlsieg und einer komfortablen Verhandlungsposition einiges gemacht. Das Regierungsprogramm trägt eine kräftige grüne Handschrift, und in nahezu allen relevanten Infrastrukturministerien werden Grünen-Politiker das Sagen haben. Die Ressorts Verkehr und Umwelt, bislang natürliche Antipoden, müssen sich bald sogar ein Klingelschild teilen. Die „Entfesselungspolitik“ der schwarz-gelben NRW-Koalition wurde im Eiltempo entsorgt. Da kann Grünen-Chefin Mona Neubaur allzu leicht flöten, es gebe „keine Gewinner und keine Verlierer“.
Wüst macht Angela Merkel alle Ehre
Ihr neuer Duzfreund Hendrik Wüst scheint derweil zufrieden, dass die CDU wenigstens die Staatskanzlei und den Markenkern der „Null Toleranz“-Linie von Kabinetts-Star Reul retten konnte. Der Ministerpräsident, in jungen Jahren ein konservativer Raufbold und lange in den eigenen Reihen umstritten, hat mittlerweile die Gesetze der modernen Berufspolitik verinnerlicht wie kaum ein zweiter. Inhaltlich geschmeidig nimmt er potenziell polarisierenden Debatten die Schärfe und macht damit der „asymmetrischen Demobilisierung“ einer Angela Merkel alle Ehre. Wer keine Angriffsflächen bietet, schläfert jeden Gegner ein.
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Vorsichtig, fleißig und diszipliniert bis zur Automatenhaftigkeit umkurvt Wüst jedes Fettnäpfchen, in das der rheinische Bauchmensch Armin Laschet noch beherzt gesprungen wäre. Der Ministerpräsident beherrscht die in Zeiten von Social Media so wichtige Bildsprache und pflegt mit Kind und Kegel gekonnt ein Schwiegersohn-Image, das bei der Stammwählerschaft ankommt. Selbst sein Friseur aus Rhede durfte im Landtagwahlkampf auftreten und erläutern, warum zur ovalen Kopfform „ein bisschen mehr Natur“ besser passe als der früher so strenge Seitenscheitel. Was sind da schon Spiegelstriche im Koalitionsvertrag?
Eine große Chance für Hendrik Wüst
Jetzt bietet sich dem 46-jährigen Wüst trotz oder gerade wegen des grün durchwirkten Vertragswerks die große Chance, für viele, viele Jahre zum überparteilichen Landesvater zu reifen. Als einziges Risiko ist derzeit ein doppeltes „K“ erkennbar: Konturlosigkeit und Kanzlerkandidatur. Seine notorische Kompromissfähigkeit darf nicht in inhaltliche Beliebigkeit umschlagen. So sehr die Wählerschaft Koalitionsharmonie schätzt und die präsidiale Rolle eines Länderregierungschefs honoriert, wäre es für die Machtmaschine CDU schädlich, wenn sie den Grünen jeden programmatischen Ehrgeiz überließe.Gerade erwartbare Großkonflikte wie Energiekrise, Verkehrswende oder der nächste Corona-Herbst fordern einen Ministerpräsidenten, der von vorne führt.
Schon die absehbaren Gas-Verteilungskämpfe, die bei den Grünen verhassten Landstraßen-Wünsche der CDU-Landräte oder heikle Verhandlungen mit RWE über die Rettung des Braunkohle-Symboldorfs Lützerath könnten zur Nagelprobe der Richtlinienkompetenz werden.
Wüst ist zudem klug genug, seinen Ruf als neue Kanzlerreserve der Union für Einfluss und Ansehen zu nutzen, ohne sich wie Laschet in Berlin zu verbrennen oder wie einst SPD-Vorgängerin Hannelore Kraft mit einer „Nie, nie“-Absage selbst zu verzwergen. Es bleibt gleichwohl ein schmaler Grat. Wenn sich 2024/25 Friedrich Merz und ein zu jeder Schmutzelei fähiger Markus Söder in der K-Frage verhaken sollten, könnte sich rasch der Blick auf den schwarz-grünen Wüst im größten Bundesland als Scholz-Herausforderer richten. Dann steuerte das Bündnis in Düsseldorf, das laut Eigenbeschreibung „Gegensätze überwinden will“, schnell in eine Belastungsprobe.