Am 13. November 2020 starb die Rentnerin Anne M. (66), als eine Betonplatte an der A3 auf ihr Auto stürzte.
Ein Jahr später steht die Suche nach Verantwortlichen noch am Beginn.
Köln – Es hätte nur weniger Sekunden bedurft. Nur zwei, drei Wimpernschläge. Das hätte gereicht. Das Auto von Anne M. wäre dann schon ein Wagenlänge weiter weg gewesen. Nicht genau auf diesem gottverlassenen Flecken der A3 bei Dellbrück. Doch dieser kleine Vorsprung, der reichen kann, um eine ins Schloss fallende Tür gerade noch aufzudrücken, den hatte die 66-jährige Kölnerin an diesem Tag nicht. Krachend fiel die sechs Tonnen schwere Schallschutzplatte auf ihr Auto. Aus. Vorbei. Was für ein Schicksal, möchte man meinen. Dass es auch noch an einem Freitag den 13. geschah, scheint das Schicksalhafte zu unterstreichen. Doch es war kein Schicksal. Es war Pfusch. Auf breiter Front. Und heute, fast genau ein Jahr später, hat noch keiner dafür bezahlt, noch keiner dafür gebüßt. Die Kette aus Fehlern, die zum Tod von Anne M. führte, ist noch immer nicht durchschlagen.
Das Unglück schockierte
Nach dem tödlichen Unglück wurde viel gesprochen. Über zusammengeschweißte Halterungen, über ungenau gefertigte Betonelemente, über verschobene Prüftermine. Aber nicht über Anne M.. Das Rosenrot in Nippes, das war ihr Lieblingslokal. Dort traf sie sich mit Freunden. „Sie hatte viele“, sagt eine Angestellte, die Anne M. dort öfters bediente. Als Zahntechnikerin habe sie gearbeitet.
Als sich die Gelegenheit ergab, ging die Frau, der ein adrettes Auftreten wichtig war, in Rente. „Das hat ihr gut gefallen. Sie fand es toll“, berichtet die Servicekraft. Die Rentnerin nutzte die neu gewonnene Zeit mit Vorliebe zum Wandern. „Und wenn es was zu lachen gab, dann war sie dabei.“ Ja, als es damals hieß, das war die Anne, die Tote bei diesem Unfall auf der A3, da sei sie geschockt gewesen. „Unfassbar“, steht in großen Buchstaben auf einer Todesanzeige, die nicht weniger als 60 ihrer Freunde aufgegeben haben.
So unfassbar ihr Tod, so greifbar die Gründe. 2007 – 13 Jahre vor dem Unglück – wurde die Schallschutzwand an der A3 bei Dellbrück fertiggestellt. Um den Termin halten zu können, wurde kurzerhand passend gemacht, was nach den Bauplänen nicht mehr passen konnte. Bei den vorgefertigten Bauelementen stimmten die Maße nicht. Deshalb ließen sich einige der Platten mit der Schall absorbierenden Oberfläche nicht mehr mit den vorgesehenen Halterungen in der bereits gegossenen Betonwand befestigen.
Sicherungsmaßnahmen
200 Schall absorbierende Elemente wurden an den Schallschutzwänden im Abschnitt Dellbrück der A3 mittlerweile zusätzlich gesichert. Über 400 angebrachte Stahlprofile sollen ein Abstürzen der Platten verhindern. Der Verkehr war dafür über acht Monate eingeschränkt.
7 weitere Platten wurden von den Monteuren beim Bau der Schallschutzwand ebenfalls mit einem improvisierten Winkel befestigt. Sie wurden unmittelbar nach dem Unfall wieder demontiert.
25 Abschnitte an Landstraßen und Autobahnen hatte Straßen.NRW nach dem Unglück auf der A3 ausgemacht, an denen vergleichbare Elemente verbaut wurden. An der A59 bei Duisburg wurden Sicherungen angebracht. „Ansonsten sind wir auf keine gravierenden Mängel gestoßen“, sagt damals ein Sprecher der Landesbehörde Straßen.NRW. (ngo)
Die Monteure „frickelten“ auf der Baustelle Halterungshaken zurecht. Plump zusammengeschweißt. Als das Schallschutzelement darniederlag, trat es offen zutage. Die damals zuständige Landesbehörde Straßen.NRW glaubte damit, die Ursache bereits gefunden zu haben: Pfusch der Arbeiter. Was die Behörde dabei vergaß: Die hauseigenen Prüfingenieure hatten den Pfusch abgenommen. Sie stimmten damals der zusammengeschweißten Halterung unter dem Vorbehalt zu, dass ein statischer Nachweis noch zu erbringen sei. Doch der wurde nie erbracht. Die beiden beteiligten Firmen gingen in Insolvenz. Auf die Idee, den Nachweis selbst zu führen, kam bei Straßen.NRW wohl niemand. Stattdessen erhielt die Schallschutzwand bei den technischen Untersuchungen Bestnoten.
Die Hauptuntersuchung im Jahre 2013 schloss mit „sehr gut“ ab. Die verpfuschte Halterung nahm dabei keiner in Augenschein. Dafür hätte die Schall absorbierende Platte demontiert oder mit einer kleinen Kamera sondiert werden müssen. Der Aufwand wurde wohl als zu groß erachtet, obwohl die Richtlinien das durchaus vorsehen. Die für 2019 vorgeschriebene Hauptuntersuchung fand nicht mehr statt. Denn bei Straßen.NRW hatten sich mittlerweile 10.000 unerledigte Prüfungen technischer Bauwerke aufgestaut. Und da die Schallschutzwand bei Dellbrück erst 2013 eine glatte Eins bekam, konnte ihre turnusgemäß anstehende Hauptuntersuchung ja getrost aufgeschoben werden. So wurde der improvisierte Haken – ein müder Schatten der vorgeschriebenen Originalhalterung – über 13 Jahre lang vom Sog und den Erschütterungen vorbeirauschender Lkw sowie dem Gewicht der sechs Tonnen schweren Platte stetig ermüdet.
Viele der genannten Fehler räumte Straßen.NRW nach und nach selbst ein. Andere kamen durch Untersuchungsberichte des NRW-Verkehrsministeriums ans Licht. Man sollte meinen, unter diesen Umständen ist der Weg zur Anklage ein kurzer. Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer: „Die Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung gegen Unbekannt dauern unvermindert an.
Noch immer ist keine Verantwortung auszumachen
Derzeit ist die Polizei Köln zur Klärung der Frage, ob der Tod der Verkehrsteilnehmerin auf ein strafrechtlich vorwerfbares Verhalten einer oder mehrerer Personen zurückzuführen ist, noch mit der Auswertung umfangreicher Beweismittel in Form schriftlicher Unterlagen betraut. Nach Abschluss dieser Auswertungen wird die Staatsanwaltschaft auch unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus bereits vorliegenden Stellungnahmen von Sachverständigen entscheiden, ob Ermittlungen gegen konkret zu benennende Beschuldigte aufzunehmen sind. Wann dies genau der Fall sein wird, vermag ich noch nicht zu sagen.“
Hendrik Wüst, damals noch Verkehrsminister in NRW, kündigte kurz nach dem Unglück im zuständigen Ausschuss des Landtages an, die Prüfpraxis im Landesbetrieb Straßen.NRW werde auf den Prüfstand gestellt. Doch es brauchte allein sieben Monate, bis überhaupt ein geeigneter Gutachter gefunden war. Welche Lehren wurden schon gezogen? Ein Sprecher des NRW-Verkehrsministeriums: „Die Prozessüberprüfung ist noch nicht abgeschlossen. Ob sich aus der Überprüfung Konsequenzen oder Änderungen der Prozesse ergeben werden, ist vor Fertigstellung des Abschlussberichtes nicht absehbar.“ Es brauchte eine Sekunde, bis Anne M. ihr Leben verlor. Doch 365 Tage reichen nicht, um eine Verantwortung auszumachen.