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Interview

Kölner Sozialarbeiterin
Wie jungen Frauen in Köln über das Handwerk geholfen wird

Lesezeit 8 Minuten
Köln, RSK, Imgrund-Interview mit Christiane Lehmann

Köln, RSK, Imgrund-Interview mit Christiane Lehmann

Das Handwerkerinnenhaus in Köln unterstützt junge Frauen durch Bildungsprogramme und handwerkliche Ausbildung, um ihre Lebenswege positiv zu beeinflussen. 

Die gelernte Tischlerin und Sozialarbeiterin Christiane Lehmann betreibt über das Handwerkerinnenhaus Lobbyarbeit für benachteiligte junge Frauen. Bernd Imgrund sprach mit ihr über Handwerk, Bildungsgerechtigkeit und die Faszination von bearbeitetem Holz.

Sind Sie Tischlerin oder Schreinerin?

Ich bin Tischlerin. In Süddeutschland sagt man eher Schreinerin und hier im nördlicheren Bereich Tischlerin. Was ist der Unterschied zwischen Tischler und Zimmermann, Tischlerin und Zimmerfrau? Zimmern ist gröber, wir Tischler arbeiten feinmotorischer und wie ich finde auch kreativer. Mein Steckenpferd ist das Möbeldesign, und zudem liebe ich es, mir Werkstücke für die Mädchen zu überlegen.

War es zu Ihrer Zeit ungewöhnlich, als Frau eine Tischlerlehre zu machen?

Ich habe zuerst Sozialarbeit studiert und mit Anfang 30 die Lehre begonnen. Tischlerin zu werden, war schon als Jugendliche mein Traum, aber damals, in den 70ern, leider noch kaum denkbar als Frau. Auch in den 90ern war ich neben 18 Männern noch die einzige Frau in der Berufsschule, und genau so sah es im Betrieb aus. Da brauchte es durchaus ein gewisses Standing.

Gab es geschlechtsspezifische Probleme für Sie?

Für mich persönlich überhaupt nicht. Am Anfang haben die Männer gemeint, sie müssten mir alles tragen – Werkzeuge, Bohlen und sowas.

Aber Sie wollen vom Mann nicht den Koffer getragen kriegen?

Genau. (lacht) Andersherum konnte ich den Jungs in Mathematik helfen, da war ich weiter als die meisten von denen.

Was war Ihr Gesellenstück?

Ein Schrank aus Ahorn und Nussbaum, also hell und dunkel. Die Türen sind aus unterschiedlich breiten Streifen zusammengesetzt und ein bisschen asymmetrisch aufgetrennt.

Die Schubladen haben verdeckte Schwalbenschwanzverbindungen?

Selbstverständlich. (lacht) Der Schrank ist jetzt über 30 Jahre alt und steht bei mir im Wohnzimmer.

Mussten Sie später im Betrieb oft den Kaffee holen?

Nee, nee, die Zeit war da schon vorbei. Eigentlich habe ich nur gute Erinnerungen an meine Zeit im Betrieb. Und mittlerweile arbeiten sehr viele junge Frauen in den Tischlereien.

Kommen die Mädchen über ihre Schulen ins Handwerkerinnenhaus?

Ja, das ist der Weg. Wir haben Kooperationsschulen, die schauen ab der fünften Klasse, ob da Mädchen eine besondere Förderung brauchen. Dann werden Gruppen zusammengestellt, und es gibt einen Kennenlernkurs mit mir und meinen Kolleginnen.

Wer oder was ist „Pfiffigunde“?

Ein Baustein von unserem großen „Mädchenprojekt Zukunft“. Das Handwerkerinnenhaus bietet neben der handwerklich-technischen Berufsorientierung auch Prävention und Intervention bei Schulverweigerung. Wir wollen Mädchen früh begleiten und stärken. Vor allen Dingen sollen sie für Schule und Ausbildung motiviert werden und eine selbstbestimmte Berufsperspektive für sich entwickeln können. Und das Handwerk nutzen wir hierbei sozusagen als Medium. Die Mädchen kommen schulbegleitend, im Vormittags- oder im Nachmittagsbereich für zwei Stunden.

Warum werden sie von der Schulverwaltung an Sie verwiesen?

Zu uns – vor allem in unseren Interventionsbereich – kommen Mädchen mit familiären, persönlichen oder auch schulischen Problemen. Die Eltern haben häufig eine Suchtproblematik. Einige Mädchen sind verhaltensauffällig, einige aggressiv oder autoaggressiv, manche leiden auch unter Depression und Bindungsangst. Ich habe ein Mädchen kennengelernt, das mit seiner Familie zu neunt in zwei Zimmern lebte, da ist Konzentration auf die Hausaufgaben praktisch unmöglich. In einem anderen Fall stellte sich heraus, die Mutter des Mädchens war an Leukämie erkrankt, der Vater völlig überfordert, sie selber fühlte sich perspektivlos und alleingelassen. Ich hatte einen guten Draht zu ihr, und schnell hat sie Blut geleckt für die Tischlerei.

Hielt das Interesse an?

Sie hat den Hauptschulabschluss geschafft, den Realschulabschluss nachgeholt, eine Tischlereiausbildung gemacht, Fachabi gemacht und schließlich Sozialpädagogik studiert. Nun will sie auch noch ein Psychologiestudium anfangen.

Respekt! An solch einem Beispiel erkennt man, wie viele Talente unentdeckt schlummern, wenn es in der Familie, in der Schule nicht stimmt. Jugendliche wollen wahrgenommen werden, sie brauchen Respekt und Unterstützung auf ihrem Weg.

Wie autoritär muss man in einer heiklen Institution sein können?

Das ist ganz individuell. Ich frage mich, wie kann ich an dieses Mädchen herankommen? Welche Methoden muss ich anwenden, um ein Mädchen zu fördern, um sein Vertrauen zu gewinnen? Autoritär bin ich sehr ungern. Ich denke, es gelingt mir über die individuelle Einfühlung, dass die Mädchen bei uns „andocken“.

Bei der Recherche für dieses Interview stieß ich auf folgende Geschichte: In der griechischen Mythologie war Perdix der Neffe von Dädalus, der ja auch die Flügel gebaut hat. Perdix ging bei Dädalus in die Lehre und erfand mal eben die Säge. Dädalus war so neidisch auf seinen Lehrjungen, dass er ihn von der Akropolis stürzte.

Die kannte ich noch gar nicht, ich vermute, ein typisch männliches Verhalten. Das lässt sich übertragen auf die Geschlechterdifferenz im Handwerk: Viele Männer haben möglicherweise Angst, von Frauen überflügelt und verdrängt zu werden.

Haben Frauen eine andere Herangehensweise an die Arbeit?

Ich habe Männer kennengelernt, die sehr von sich überzeugt waren, aber als Tischler nicht viel drauf hatten. Frauen in männerdominierten Berufen geben hingegen immer 150 Prozent. Die müssen sich stärker beweisen. Aber jede junge Frau, die sich für einen männerdominierten Beruf entscheidet, tut dies sehr bewusst.

Und der Berufswunsch entsteht manchmal durch die Stunden im Handwerkerinnenhaus?

Wir hatten hier ein Mädchen mit türkischen Wurzeln. In der Schule wurde sie wegen ihres Äußeren gemobbt, bei uns war sie nach drei Wochen schon richtig heiß aufs Handwerken. Unser Berufsorientierungsbereich „Holly Wood“ vermittelte sie in ein Praktikum, in dessen Rahmen sie drei Wochen auf dem Bau arbeitete – Fenster einbauen, das ist handwerklich schwierig und nicht besonders prickelnd.

Aber sie hielt durch?

Ja, und danach überzeugte sie ihren skeptischen Vater davon, dass auch die Fenster ihrer Mietwohnung neu justiert werden müssten. Zunächst hatte der Vater Angst, dass seine Tochter etwas falsch machen könnte, und fürchtete Ärger mit dem Vermieter. Aber danach war er begeistert und hat den Berufswunsch seiner Tochter voll unterstützt. Und sie hat erfolgreich ihre Ausbildung zur Tischlerin absolviert!

Warum haben Sie noch immer alle zehn Finger?

(lacht) Weil ich mich an die Sicherheitsbestimmungen halte und das auch den Mädchen vermittele. In 28 Jahren sind Mädchen vielleicht drei, vier Mal an die Dekupiersäge geraten, aber es ist nichts Ernsthaftes passiert. Anders bei meinem Tischlermeister damals: Der hatte an beiden Händen nur noch Daumen und Zeigefinger.

Haben Sie japanische Sägen? Na klar, die sind wunderbar. Japanische Sägen arbeiten auf Zug statt auf Schub wie europäische. Das geht einfacher, ruhiger und präziser.

Haben Sie ein Lieblingsholz?

Nussbaum mag ich sehr gerne. Das Holz hat einen schönen, warmen Ton.

Was macht Öl mit Holz?

Zunächst mal muss man ordentlich schleifen, dann folgt das Ölen. Holz hat Poren, wie unsere Haut. Unsere Finger werden dreckig, weil sich Dreck in die Poren setzt. Und so arbeitet auch das Öl: Es verschließt diese Poren, schützt vor Feuchtigkeit und und macht einen seidigen Glanz.

Fassen Sie Holz gern an?

Eine geölte Holzoberfläche ist weich wie Samt. Den Mädchen sage ich, sie sollen die Augen schließen und fühlen. Auch schon vor dem Ölen übrigens, da erkennen sie am besten letzte Unebenheiten.

Sorgt sich bei Ihnen niemand um die manikürten Finger?

Ich hatte tatsächlich schon Mädchen, die hier mit sehr langen Fingernägeln ankamen, drei Zentimeter, und die waren echt. An eine erinnere ich mich, die fing nach drei Wochen plötzlich an, sich mit dem Schleifklotz die Fingernägel abzuschleifen. Weil sie sagte, so kann ich nicht arbeiten. Solche Veränderungen sehen wir hier manchmal in kürzester Zeit, das sind schöne Erinnerungen.

Aber das ewige Schleifen nervt, oder?

Im ersten Lehrjahr musste ich noch alles mit der Hand schleifen. Im zweiten kam dann die große Bandschleifmaschine an den Start. Auch unsere Mädchen sagen oft, oh, schon wieder schleifen. Aber man muss diese Erfahrung machen, dass Holz durch Schleifen zu so einem unglaublichen Handschmeichler wird. Dann nimmt man das Schleifen gerne in Kauf.

Was würden Sie gern der Kölner Politik hinters Ohr schreiben?

Für mich ist das hier nicht nur Handarbeit, sondern auch Lobbyarbeit. Allein in den letzten Monaten hatten wir hier in unseren Projekten sechs Mädchen, die in Obhut genommen wurden, die also aus belasteten Familien kamen, etwa nach Gewalterfahrung. Die Mädchen kommen dann in ein Übergangswohnheim, das eigentlich nur für kurze Zeit gedacht ist.

Aber?

Oft verbleiben sie über Monate dort, weil es in Köln zu wenig Wohngruppenplätze für solche Fälle gibt. Eines unserer Mädchen wurde nach Bergisch Gladbach in eine Wohngruppe vermittelt und kämpfte sich jeden Tag trotz hoher psychischer Belastung wegen ihrer prekären Lebenssituation nach Köln, um ihren Schulabschluss zu machen. Sie hat ihn trotz Depressionen geschafft. Das ist toll, aber nicht jede oder jeder Jugendliche ist so resilient. Für viele verzögert sich eine Verbesserung ihrer Lebens- und Problemsituation erheblich, manche Jugendliche gehen dem System und der Gesellschaft verloren. Hier muss viel mehr in die Jugendhilfe investiert werden!