Museum LudwigEine Weltreise bis nach Köln – Ein Leben in Bildern
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Köln – Kein Bild, ein Gefühl ist das erste, an was er sich erinnert. Damals, im Zug, der durch Süddeutschland rollt. Limonade brennt ihm im Mund; er hat eine Höllenangst, sie zu schlucken. Ein Mitreisender hat sie dem Sechsjährigen geschenkt. Limo mit Kohlensäure. So etwas hatte der Junge aus der Türkei noch nie in seinem Leben getrunken.
28 Jahre später steht Fikret Üçgüler vor dem Reichstag. Am 3. Oktober 1990 filmt er die feiernden Menschen aus beiden Teilen Deutschlands, immer mehr strömen auf die Wiese vor dem Gebäude. „Ich hatte stundenlang Tränen in den Augen“, sagt er. Am Tag darauf ist er Kameramann bei der ersten Sitzung des gesamtdeutschen Parlaments. Die orangene Ausweiskarte von damals hütet er bis heute. Diese beiden Tage, sagt er, zählen zu den wichtigsten in seinem Leben.
Bilder dieses Lebens sind derzeit in einer Ausstellung im Museum Ludwig zu sehen. Sie thematisiert, wie die erste Gastarbeitergeneration in Deutschland lebte – und wie sie ihr Leben in Fotografien dokumentierte.
Im Dezember 1962 kommt Fikret Üçgüler als Sohn eines angeworbenen Gastarbeiters mit seiner Mutter in die Bundesrepublik. Ein Jahr hatte es sein Vater als Schichtarbeiter bei Ford ohne seine Frau und seinen Sohn ausgehalten, dann holt er sie nach.
Für den Jungen aus Beykoz, einem nördlichen Stadtbezirk Istanbuls, am Schwarzen Meer gelegen, ein gewaltiger Schritt. Er kommt mit vielen Bildern im Kopf in die große, graue, vom Krieg gezeichnete Stadt. „Mein Vater lebte in einer Holzbaracke, vier Arbeiter, Etagenbetten, zwei Schränke in einem kleinen Raum“, erinnert sich der 64-Jährige. „Dann haben wir mit drei Familien auf 110 Quadratmetern gewohnt. Möbliert. Der Besitzer hieß Günter Kaußen. Er hat nur an Ausländer vermietet.“
Da waren die Bilder im Kopf des Sechsjährigen noch ganz frisch. Von der Terrasse ihres Hauses in Beykoz, von der aus man alle Filme des Freilicht-Kinos sehen konnte. Viele Freunde der großen Familie kamen, der kleine Junge hockte neben ihnen unterm Sternenhimmel. Und sah Filme „seit ich denken kann“.
Die neue Heimat hält andere Bilder bereit. Acht Wochen nach ihrer Ankunft im winterlichen Köln sehen Mutter und Sohn den vielen Menschen an den Straßen verwundert zu. Die tragen bunte Kleidung und beugen sich zu Boden. Immer und immer wieder. „Mein erster Karneval“, erzählt Üçgüler. „Im nächsten Jahr waren wir cleverer, da haben wir viele Tüten voll gesammelt.“ Und: „Ich wollte Cowboy sein, niemals Indianer. Die wurden immer besiegt in den Filmen. Als Gastarbeiterkind verliert man oft. Als Cowboy nie.“ Üçgüler deutet auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Ein kleiner Cowboy blickt selbstbewusst in die Kamera. „Da war ich sieben oder acht.“
Und geht in eine Sonderschule. In der kleinen Klasse dort lernt er schnell Deutsch. Dann kommt die Volksschule, später die Hauptschule. „Manche Lehrer ignorierten uns Gastarbeiterkinder einfach“, erinnert er sich. „Nach dem Hort hatten wir viele Freiheiten. Die Südstadt war der schönste Abenteuerspielplatz.“ So klettern er und seine Freunde – zwei Türken, viele Deutsche, ein Italiener – über den Zaun aufs verbotene Rheinauhafen-Gelände. Oder machen Feuer unter der Südbrücke auf der Poller Seite, um zu sehen, wie eine Flasche Goldwell-Haarspray explodiert. „Eine schöne große Stichflamme. Herrlich. Ich sehe sie noch vor mir.“ Üçgüler kann die Geschichte nicht erzählen, ohne zu lachen. „Es gab einen gewaltigen Knall. Kurz darauf standen zwei Polizisten mit ihrem VW-Käfer vor uns.“ Ein Foto gibt es davon nicht. Wohl aber von Jungs, die auf ihren Rädern durch die Südstadt stromern. Oder vom Blick aus dem Fenster des Hauses Ubierring 10 auf die Menschenmenge am Chlodwigplatz, den Karnevalszug. Ihre Farbe ist verblasst.
Auch dieser Altbau ist heruntergekommen, der Teenager schämt sich dafür, nimmt seine Freundin nicht mit nach Hause. „Ich wollte nicht, dass sie sieht, wie wir leben“, sagt er. Andere Erinnerungsbilder rühren ihn bis heute. Das von Rosi Schomberg etwa, der Chefin seiner Mutter. Sie hatte in Sülz eine Schneiderei, zur Straße hin. „Dahinter lag die Wohnküche, in der ich essen durfte. Frau Schomberg kam ab und zu nach hinten, sah mir bei den Hausaufgaben über die Schulter, korrigierte mich. Ohne sie hätte ich Vieles nicht geschafft.“
Er macht Fotos von seiner Mutter in der Schneiderwerkstatt, in schwarz-weiß, brillant und kontrastreich mit hochwertigen Ilford-Filmen, die er selbst entwickelt. Die ganzen Ersparnisse des 16-Jährigen stecken in einer Nikon F2 und dem legendären 85-Millimeter Objektiv, Lichtstärke 1,8. „Ideal, um Menschen zu fotografieren, mit ihnen in Kontakt zu kommen.“ Er läuft mit Edgar, seinem Freund seit Kindertagen, durch die Straßen. Fotografiert Mädchen am Opernbrunnen, Angler im Morgengrauen, Menschen am Bahnsteig, im Köln der 70er Jahre.
Älter noch ist eines der wenige Fotos, die es von seinem Vater gibt. Mit seiner dunklen Haut fällt er selbst unter den mehr als 20 000 Gastarbeitern auf, die Anfang der 60er Jahre hier leben. Er trägt einen Anzug, Hemd und Krawatte. Das Foto wurde auf den Ringen gemacht. „So ist er zur Arbeit gefahren. Umgezogen hat er sich da“, sagt Üçgüler. „,Wenn ich schon auffalle’, hat er gesagt, ,dann im Guten’.“
Arbeiten sieben Tage die Woche, dazu Überstunden, sparen, wo immer es geht. „Davon gibt es keine Bilder. Aber so lebten viele. Sehr viele sind zurückgegangen. Von ihnen wird nie erzählt.“ Mit zehn Jahren sollte auch er zurück an den Bosporus. „Ich wollte“, sagt er. In ein Internat gehen, in einem prächtigen Gebäude im Herzen Istanbuls. „Das hatte eine magische Ausstrahlung auf mich. Aber meine Mutter konnte mich nicht da lassen.“
Auch mit 17 Jahren, als sich die Eltern trennen, will er nach den Ferien im Land seiner Kindheit bleiben. Zur Heimat wird das graue Köln nur langsam. Irgendwann passiert es doch.
Seine Frau Gisa Rickmann-Üçgüler und seine Tochter Ayla-Karen strahlen im weißen Viereck eines Polaroids. Eins zeigt den jungen Vater beim Versuch, sein im Hochstuhl feixendes Töchterchen zu füttern. Flamingos im Fuji-Rot, mit Frau und Tochter davor, Ende der 90er im Zoo. Üçgüler ist glücklich. „Köln ist meine Heimat“, sagt er. Als Kameramann filmt er Fußball-WMs, Tiger Woods in China, die Champions-League, leidet mit beim Kopfstoß von Zidane gegen Materazzi, dreht mit Hans Meiser, Harald Schmidt, Susanne Kronzucker. Und mit Klaus Maria Brandauer.
Ein Gänsehaut-Moment, in dem er seinen Beruf noch mehr liebt. „Etwas besseres hätte mir nicht passieren können“, sagt er. „Wegen der vielen Bilder, glaube ich. Deswegen bin ich Kameramann geworden. Die Bilder in den Filmen. Damals in Beykoz.“