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Das große ZitternWie Mutationen entstehen und wie gefährlich sie sind

Lesezeit 5 Minuten
Labor Corona

Wissenschaftler forschen mit Coronaviren in einem Labor der biologischen Sicherheitsstufe 3.

Die Welt der Nicht-Virologen und Nicht-Epidemiologen lernt gerade, was in einem Biologie-Leistungskurs zumindest einmal gestreift wird: Dass jedes Virus mutiert, also auch Sars-CoV-2; dass es zur Natur einer Mikrobe gehört, sich in einem Höllentempo zu vermehren, dabei aber ihr Erbgut selten fehlerfrei kopiert. Fehler gleich Mutation. Seit Beginn der Pandemie hat die Sars-CoV-2-Fehlermaschinerie bereits über 300.000 Mutanten produziert. Die meisten verlaufen im Sande, viele schwächen das Virus, einige vermeintlich harmlose können sich jedoch zu gefährlichen Varianten kombinieren.

Vor der britischen Variante namens B.117 zittern gerade alle europäischen Nachbarstaaten. Sie trägt 17 Mutationen, wovon allein 8 für eine perfektere Bindung des viralen Spike-Protein-Schlüssels an die menschliche Wirtszelle sorgen. Deshalb braucht B.117 weniger Viruslast für eine Infektion. In Europas Hauptstädten geht die Angst um, seitdem B.117 Londons Hospitäler kollabieren ließ und Irlands Sieben-Tage-Inzidenz binnen zwei Wochen von unter 50 auf über 900 pro 100 000 Einwohner hochtrieb.

Harsche Kritik an Boris Johnson

Als der britische Premierminister Boris Johnson am Wochenende davon sprach, dass B.117 aufgrund von Forscherhinweisen wahrscheinlich tödlicher sei als der Wildtypus, verflüchtigte sich in Europas Regierungszentralen jegliche Zuversicht. „Darauf hat niemand gewartet. Für heute Nacht reicht es mir jetzt“, twitterte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.Doch Tage danach hagelte es harsche Kritik an Johnson Vorstoß. „Ich war ehrlich gesagt ziemlich überrascht, dass die Nachricht auf einer Pressekonferenz mitgeteilt wur de“, sagte Mike Tildesley, Mitglied des wissenschaftlichen Expertengremiums „Sage“, der BBC. „Ich mache mir Sorgen, dass wir Dinge voreilig melden, wenn die Daten noch nicht wirklich besonders aussagekräftig sind.“ Keinen Zweifel gibt es daran, dass Wissenschaftler tatsächlich eine Steigerung der Sterblichkeit durch B.117 nachgewiesen haben. Sterben bei der bisherigen Form 10 von 1000 Männern zwischen 60 und 70 Jahren, sind es bei der neuen Variante 13 oder 14. Die Frage ist aber: Wie valide sind die Daten?

Und genau in diesem Punkt sind Experten skeptisch, weil die genutzte Datenmenge eher klein ist. Ähnlich äußerte sich die Direktorin der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE), Yvonne Doyle. Es sei „nicht vollständig klar“, dass die Mutante tödlicher sei, sagte sie. Andere Wissenschaftler verteidigten Johnson. „Wir müssen transparent sein“, so Peter Horby, Chef der Forscher-Beratergruppe „Nervtag“. „Falls wir den Menschen nichts davon sagten, würde uns Vertuschung vorgeworfen. Dies ist ein Risiko für eine bestimmte Altersgruppe, und dieses Risiko hat sich erhöht“, sagte Horby. Für die meisten Menschen bleibe „es noch immer eine ungefährliche Krankheit.“

Ansteckungsfreudiger ist schlimmer als tödlicher

Es gibt jedoch ein massives Missverständnis. „Tödlicher“ klingt beim ersten Hören gefährlicher als „ansteckungsfreudiger“. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig. Darauf hat der Mathematiker und Epidemiologe Adan Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine hingewiesen: Ein Virus, das ansteckender ist, wäre ein „viel größeres Problem“ als ein tödlicheres. Kucharski hat das ausgerechnet: Bei einer um 50 Prozent höheren Übertragungsrate würde es bei gleicher Sterblichkeit 978 statt 179 Todesfälle pro Monate geben, bei einer um 50 Prozent tödlicheren Virus-Variante „nur“ 193 Virustote.

Diese Rechnung scheinen alle Regierungen begriffen zu h aben. Deshalb klingeln nicht nur in Paris und Berlin die Alarmsirenen. „Akuten Handlungsbedarf“ reklamiert Jean-François Delfraissy, Vorsitzender des wissenschaftlichen Corona-Beirats der französischen Regierung, und plädiert für einen strengeren Lockdown. „Wir müssen wahrscheinlich neue Ausgangssperren verhängen“, sagt er und bezeichnet B.117 als „das Pendant einer zweiten Pandemie“.

B.117 schon in sieben Bundesländern

In Deutschland sinkt zwar die Zahl der Neuinfizierten, aber Regierungssprecher Steffen Seibert spricht von heraufziehenden „dunklen Wolken“. Sie könnten aber auch längst da sein. In sieben Bundesländern ist B.117 bereits aufgespürt worden, und wenig spricht dagegen, dass die Variante verbreiteter ist als nachgewiesen, weil das Sequenzieren des Virusgenoms kaum zu den Stärken Deutschlands gehört.

Bald die nächste Meldungen: Großbritannien meldet bei den Toten das Überschreiten der 100 000er-Schwelle, die Weltgesundheitsorgani sation berichtet von 60 Ländern, in denen B.117 bereits unterwegs ist. Überall, wo der ansteckungsfreudige Cousin von Sars-CoV-2 auftaucht, erobert er zügig die Pole-Position und setzt Kliniken unter neuen Stress. In Wien identifiziert der Sequenzierautomat fast jede fünfte Probe als B.117, in der Schweiz jede zehnte, und Portugal erlebt gerade einen B.117-Großangriff. Deshalb sind Angela Merkels Antennen scharf gestellt. Die Bundeskanzlerin plädiert für das Eindampfen aller touristischen Flugaktivitäten. Aber B.117 ist ja längst da, weshalb auf das föderale Innenleben Deutschlands neue Zerreißproben warten.

Vernetztes Wissen soll helfen

Die Wissenschaft taktet indes weiter international und lebt die maximale Vernetzung. Jede neue Erkenntnis zu Infektiösität, Reinfektion oder Immunität und Impfstoff-Wirksamkeit aus einem Labor wird sofort geteilt und erweitert das Weltwissen. Virologen und Epidemiologen haben ja nicht nur B.117 vor der Brust. In vielen Erdwinkeln brütet der Schnellkochtopf der Sars-CoV-2-Evolution gerade neue Varianten mit neuen Eigenschaften aus.

Eine Auswahl:Die in Südafrika entstandene Variante B.1358 und der in Brasilien ausgebrütete P.1-Typ erscheinen, so der Wissensstand, besonders problematisch. Beide tragen die Mutante E484K, eine sogenannte Fluchtmutation: Das Virus reagiert auf Antikörper in Menschen, die eine Infektion überwunden haben. So sind Reinfektionen in Manaus, wo bereits eine Herdenimmunität von über 70 Prozent besteht, wissenschaftlich bestätigt. Auch in Südafrika wächst die Angst, dass Antiköper von Genesenen ihre Wirkung gegen die neue Variante verlieren. In Laborversuchen zeigten sie eine 10-fach schwächere Reaktion. Zudem scheinen B.1358 und P.1 (noch) ansteckungsfreudiger als B.117.

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Die gute Nachricht: Die Forschung geht davon aus, dass die genbasierten mRNA-Impfstoffe auch allen Fluchtmutanten des Virus den Garaus machen. Zumindest deuten erste Lab orversuche darauf hin. Notfalls könnten die mRNA-Seren schnell angepasst werden. Was das alles für eine effektive Corona-Abwehrpolitik bedeutet, ist Viola Priesemann schon länger bewusst. Die Professorin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen sagte gestern bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Bad Honnef, das A und O der Seuchenbekämpfung seien „geringe Fallzahlen“. Darüber seien sich alle Forscher in Europa einig. Eine Null-Covid-19-Strategie, also das Herunterfahren der Sieben-Tage-Inzidenz auf weit unter 50 pro 100 000 Einwohner, sei „das Beste für Gesellschaft, Wirtschaft und individuelle Freiheiten“. Sie rechnete vor: „20 000 Neunifizierte pro Tag bedeuten zwei Millionen Quarantänefälle“ – ein wirtschaftliches Desaster für jedes Land.