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Interview

Ärztepräsident Klaus Reinhardt
„Der Hausarzt sollte erste Anlaufstelle sein und nur im Bedarfsfall an Fachpraxen weiterleiten“

Lesezeit 5 Minuten
laus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin.

laus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin.

Ärztepräsident Klaus Reinhardt drängt Schwarz-Rot dazu, bei den anstehenden Reformen auf die Praktiker zu hören. Zu seinen konkreten Vorschlägen gehört, das „Ärzte-Hopping“ zu stoppen, indem Patienten für Extra-Behandlungen draufzahlen müssen.

Herr Reinhardt, weiter mit Karl Lauterbach, oder wen wünscht sich die Ärzteschaft als neuen Gesundheitsminister?

Uns wäre jede und jeder recht, die oder der das Amt fachlich gut ausfüllen kann. Wichtig ist auch, dass wir offen, ehrlich und verlässlich miteinander reden und umgehen können. Und wir wünschen uns, dass die Politik auf den Sachverstand derjenigen hört, die sich Tag für Tag in Praxis oder Klinik um die Gesundheitsversorgung der Menschen kümmern.

Unter Lauterbach und dessen Vorgänger Jens Spahn sind die Kosten stark gestiegen. Vor Leistungskürzungen schreckt die künftige Regierung zurück. Fehlt ihr der Mut?

Alles zum Thema Karl Lauterbach

Ob Leistungskürzungen die erste Antwort sind, das bezweifle ich. Aber wir brauchen eine ehrliche Debatte darüber, wie wir die begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel im Sinne der Patientinnen und Patienten effektiv einsetzen. Aktuell stoßen wir an Grenzen bei der Belastbarkeit vieler Ärztinnen und Ärzte, die die knappen personellen und finanziellen Ressourcen, sowie die massive Inanspruchnahme durch ein immens hohes Arbeitspensum kompensieren. Das kann auf Dauer keine Lösung sein.

Kann das „verbindliche Primärarztsystem“ helfen, das Union und SPD planen?

Der Deutsche Ärztetag hatte sich im letzten Jahr klar für ein solches System ausgesprochen und den Weg in diese Richtung mitgebahnt. Deshalb, ja, wir unterstützen das sehr und raten dazu, uns bei der Umsetzung einzubeziehen. Eine kluge Patientensteuerung könnte die Probleme substanziell verringern.

Was ist damit konkret gemeint?

Der Hausarzt sollte erste Anlaufstelle sein und nur im Bedarfsfall an Fachpraxen weiterleiten. Ein Primärarzt könnte bei mehrfach Erkrankten die komplexe Versorgung koordinieren, aber wir müssen wegkommen von der Doppelt- und Dreifach-Versorgung unkoordiniert und nebeneinanderher. Ausgenommen sind natürlich Behandlungen, bei denen Patienten aufgrund definierter chronischer Krankheiten ohnehin regelmäßigen und kontinuierlichen Kontakt zu Fachärzten haben. Wir sind überzeugt: Eine wirklich smarte Patientensteuerung könnte helfen, die knappen ärztlichen Ressourcen viel effizienter zu nutzen und auch die Kosten insgesamt spürbar zu senken.

Also weg mit der freien Arztwahl?

Nein. Auch in einem gesteuerten System sollen Patienten ihre Ärzte wählen oder wechseln, aber nicht mehr willkürlich jede Versorgungsebene nach Gutdünken ansteuern können. Dass jemand am Montag direkt eine Klinikambulanz aufsucht, obwohl seine Erkrankung auch gut vom Hausarzt, oder z.B. von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt oder einem niedergelassenen Orthopäden behandelt werden könnte, das geht einfach nicht. Die Termin-Portale und die telefonische Vermittlung der Kassenärztlichen Vereinigung über 116117 können noch optimiert werden. Denn jeder Patient hat Anspruch darauf und braucht die Sicherheit, dass er gesehen wird. Aber wer auf eine Behandlung jenseits der ihm angebotenen Wege besteht, müsste sich auch selbst an den zusätzlichen Kosten beteiligen.

Soll es an den Ärzten hängenbleiben, überflüssige Arztkontakte zu sanktionieren?

Ein Koalitionsvertrag ist kein Gesetzentwurf. Wie man eine Selbstbeteiligung konkret regelt, muss im parlamentarischen Verfahren mit den Beteiligten beraten werden. Aber natürlich kann es nicht Aufgabe von Ärztinnen und Ärzte sein, Strafgebühren für die Krankenkassen einzuziehen. Viele Optionen sind denkbar, von einer Selbstbeteiligung, die von den versicherten mit den Kassen abzurechnen ist, über gestaffelte Kassentarife. Entscheidend ist, dass die Zuzahlung unbürokratisch und nachvollziehbar geregelt wird.

Warum ist das überhaupt notwendig?

Dass sich jeder auf Kosten der Allgemeinheit aussucht, was ihm am besten passt, das ist weltweit einzigartig, aber nicht fair und definitiv nicht mehr länger leistbar und bezahlbar. Wenn wir endlich zu einer vernünftigen und verbindlichen Steuerung kommen, würden wir nicht nur viel Geld sparen, sondern könnten auch die Terminknappheit und den Zeitdruck erheblich reduzieren. Am Ende bliebe den Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für ihre Patienten.

Mehr Patientensteuerung wird aber kaum ausreichen, die riesigen Löcher der Krankenkassen zu stopfen, oder?

Sicher nicht, nein. Zum Beispiel müssen auch die stetig steigenden Arzneimittelkosten auf den Prüfstand.

Der Zugang zu besonders teuren Medikamenten sollte eingeschränkt werden?

Es geht nicht unbedingt um besonders teure Medikamente. Grundsätzlich müssen wir glaube ich noch besser prüfen, ob neue Arzneimittel wirklich den versprochenen Zusatznutzen bringen und ob sie ihr Geld tatsächlich wert sind. Andererseits, wenn es etwa bei Krebsmedikamenten große Innovationen gibt, die die Lebensqualität Erkrankter deutlich erhöhen und sogar Heilungsaussichten geben, müssen wir uns fragen, ob wir dann ältere und einfachere Therapien noch wie bisher erstatten können. Die Mittel sind begrenzt. Und deswegen darf die Frage gestellt werden, wie wir sie am sinnvollsten und gerechtesten einsetzen. Ich bin weit davon entfernt, eine Antwort geben zu können. Den Diskurs sollten wir aber nicht scheuen, auch nicht, wenn es schwieriger wird.

Müsste nicht auch viel mehr getan werden, damit die Leute erst gar nicht krank werden?

Ja, unbedingt und auf jeden Fall! Wir beobachten seit vielen Jahren eine teils dramatische Zunahme von sogenannten Zivilisationserkrankungen wie Diabetes Typ II oder Skeletterkrankungen, im Wesentlichen wegen ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel. Und diese Erkrankungen verursachen ja nicht nur individuell zum Teil schwere und erheblich beeinträchtigende Erkrankungen, sondern auch signifikante Behandlungskosten, die von allen Beitragszahlern getragen werden müssen. Deswegen ja: In Sachen Prävention müssen wir das Ruder ganz dringend herumreißen!

Reicht der geplante „Pakt für Kindergesundheit“ samt des Versprechens, bestehende Angebote an Schulen zu stärken, dafür aus?

Aus meiner Sicht muss der Pakt für Kindergesundheit an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Kinder müssen vor dem übermäßigen Konsum zucker- und fetthaltiger Lebensmittel geschützt werden können – zum Beispiel durch gezielte Werbeverbote und die Einführung einer Zuckersteuer. Die Gewinninteressen der Lebensmittellobby dürfen nicht länger über das Wohl der Kinder gestellt werden. Flankiert werden müssen diese Maßnahmen durch regelmäßigen und verbindlichen Gesundheitsunterricht an Schulen und Berufsschulen. Die von den Unterhändlern der AG Gesundheit angesetzten 30.000 Euro zusätzlich pro Schule für die Förderung der Kindergesundheit sind definitiv ein Anfang.

Die Lehrer werden sich für zusätzliche Aufgaben bedanken!

Ja klar. Aber zum Beispiel Sport – das heißt die körperliche Ertüchtigung – ist fester Bestandteil der Lehrpläne, auch musische Bildung. Meine Überzeugung: Gesunde und auf sich selbst achtgebende Lebensführung sollte in den Unterricht aufgenommen werden. Wir können Eltern nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir dürfen aber auch nicht länger den Blick vor der Wirklichkeit verschließen. Die Kinder- und Jugendarztpraxen platzen aus allen Nähten wegen Kindern, die nicht krank sein sollten. In Sachen gesundheitlicher Erziehung ist in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig getan worden, da liegen gewaltige Aufgaben vor uns, und deswegen gehört das Thema definitiv in die Schule.