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Interview mit Virologe Streeck„Der Grenzwert vermittelt ein völlig falsches Bild“

Lesezeit 7 Minuten
Virologe Bonn

Hendrik Streeck 

  1. Der Virologe Hendrik Streeck hält weder den Inzidenzwert noch die tägliche Zahl der Neuinfektionen für sinnvolle Richtwerte bei der aktuellen Corona-Strategie.
  2. Im Interview erklärt er außerdem, warum die zweite Impfdosis nicht herausgezögert werden sollte und warum es angesichts der Mutation aus Großbritannien keinen Grund gibt, in Panik zu geraten.

Herr Professor Streeck, harte Maßnahmen für weitere acht bis zehn Wochen sind gerade im Gespräch. Bundeskanzlerin Merkel soll das am Dienstag in einer internen Sitzung von Unions-Parlamentariern gefordert haben. Werden wir bis Ostern mit dem Lockdown leben müssen?Streeck Es ist grundsätzlich richtig, das Ziel zu haben, die Zahlen zu senken und sie niedrig zu halten. Ich bin aber skeptisch, dass dies im Winter gelingen wird. Ein Problem ist, dass wir weiterhin keine Richtschnur, keinen Kompass definiert haben und uns daher weiterhin von Lockdown zu Lockdown hangeln.

Was meinen Sie damit? Es gibt die tägliche Zahl der Neuinfektionen, den Grenzwert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner und die Zahl zur Intensivbetten-Auslastung.

Streeck Der Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner wird von vielen als ein wissenschaftlicher Grenzwert wahrgenommen, tatsächlich aber ist er ein von der Politik definierter Grenzwert. Er vermittelt inzwischen ein völlig falsches Bild, da wir die Teststrategie ständig verändert haben. Bei den Zahlen der Neuinfektionen sehen wir, dass diese eigentlich nicht mehr ausschlaggebend sind, sondern wir viel mehr die Auslastung der Intensivstationen im Fokus haben.

Zur Person

Persönlich Der 43-jährige Hendrik Streeck wurde in Göttingen geboren.

Ausbildung Er erhielt seine Ausbildung an der Charité in Berlin und an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.Aktuell Seit Oktober 2019 ist er Professor für Virologie und Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Uni Bonn.

Dort wissen wir aber nicht, wo die Grenzen unseres Systems sind. Vor der Pandemie sind wir von einer Kapazität von 30.000 Intensivbetten bundesweit ausgegangen, aber nun droht schon bei 4000 belegten mit Covid-19-Patienten Intensivbetten die Kapazitätsgrenze. Der seit vielen Jahren bekannte und angemahnte Mangel an Fachpersonal schlägt offensichtlich voll durch, so dass Mediziner aus gutem Grund vor einer Überlastung warnen. Das müssen wir ernstnehmen, und dieses nicht erst durch Corona offensichtliche Problem endlich lösen.

Ist der verlängerte Lockdown also die richtige Maßnahme?

Streeck Wir richten uns aktuell nach den Zahlen der Neuinfektionen, die wie gesagt nur bedingt aussagekräftig sind. Wir wissen nicht, wo sich die Menschen überhaupt noch anstecken. Daher bleibt fast keine andere Möglichkeit, als mit dem Hammer drauf zu hauen. Wir sind ein Jahr in der Pandemie und haben nicht gelernt, wo genau und in welchen Bereichen wie häufig wir uns anstecken. Dadurch können wir jetzt noch nicht anfangen, mit dem Skalpell zu arbeiten, was aber das Ziel sein muss.

Zeigen die harten Maßnahmen seit Dezember denn Wirkung? Ist der Effekt der Kontakte zu Weihnachten und Silvester inzwischen erkennbar?

Streeck Dazu kann ich wenig sagen. Wie schon erwähnt ist die Aussagekraft der gemeldeten Neuinfektionen gering, der Wert wird nicht zuverlässig ermittelt. Am 3. November ist die Teststrategie angepasst worden – seitdem werden nur noch symptomatische Fälle getestet, die auch Kontakt zu Infizierten hatten. Dieser Wert ist nicht vergleichbar mit dem im Sommer, wo wir die Dunkelziffer durch massives Testen viel besser ausgeleuchtet haben. Außerdem verzerren die Antigentests, die nicht erfasst werden, das Bild. Die aktuellen Zahlen der Neuinfektionen vermitteln daher ein falsches Bild und sollten aus meiner Sicht daher nicht dem Zweck politischer Entscheidungen dienen.

Was müsste man denn tun?

Streeck Man bräuchte zunächst eine vernünftige Datenbasis. Dafür müssten systematische, repräsentative Stichproben erhoben werden, um zu verstehen, wie das Infektionsgeschehen wirklich aussieht. Nur so kann ein Richtwert entwickelt werden, der auch konstant ist. Derzeit wissen wir wie gesagt nicht, wer sich wo und wie überhaupt ansteckt, warum es überhaupt noch Infektionen gibt, wir tappen einfach im Dunkeln. Ein einfaches Instrument wäre zum Beispiel, nachzufragen, welchen Beruf die Infizierten haben. So könnte man schnell lernen, ob es besonders häufig betroffene Berufsgruppen gibt. Viele solcher Daten werden nicht erfasst.

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Ist das denn Teil Ihrer eigenen Studien?

Streeck Nein. Diese Forschung muss aus meiner Sicht zentral gesteuert werden, dass muss jemand tun, der keine Partikularinteressen hat. Da sind Virologen und Epidemiologen als Koordinatoren genauso außen vor wie das Robert-Koch-Institut, das muss aus dem Bundesgesundheitsministerium kommen.

Für wie gefährlich halten Sie die Virus-Mutation der Variante B117, die sich derzeit rasant in Großbritannien ausbreitet?

Streeck Mutationen von Coronaviren sind nicht ungewöhnlich, zu Sars-Cov-2 sind allein bereits mehr als 4000 unterschiedliche Mutationen bekannt. Die britische Variante hat mit einem Koeffizienten von 0,7 eine höhere Infektiosität – eine infizierte Person steckt nicht mehr drei Menschen an, sondern 3,7. Das ist ein Anstieg, den man ernstnehmen muss, es hat aber beispielsweise nicht die Dimension von Masern – zum Vergleich, dort liegt die Infektionswahrscheinlichkeit bei zwölf, also eine Person steckt zwölf weitere an. Die Mutation aus Großbritannien muss daher weiter untersucht und beobachtet werden, es gibt aber keinen Grund, in Panik zu geraten.

Wie weit ist die Mutation in Deutschland verbreitet?

Streeck Das kann man nicht genau sagen, da die Labore bei den Tests regulär nicht sequenzieren, also die Corona-Erreger auf Mutationen untersuchen. Die von Bundesgesundheitsminister Spahn angekündigte Sequenzier-Verordnung soll dagegen steuern, Labore sollen demnach mehr Geld für die Sequenzierung erhalten. Die Gesellschaft für Virologie hatte dies übrigens bereits in einem Brief an das Bundesgesundheitsministerium im November 2019 gefordert – vor dem Wissen einer tatsächlich auftretenden Pandemie.

Die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Corona sterben, liegt inzwischen täglich bei um die Tausend. Hätten wir dieses Ausmaß verhindern können?

Streeck Dieses Virus ist Gott sei Dank für den Großteil der Bevölkerung ungefährlich, für einige aber sehr tödlich. Es betrifft vor allem ältere, immunschwache Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die wir hätten besser schützen können – mit umfangreichem Testen, strengen Besuch erauflagen, Schleusen, und anderen Maßnahmen. Das haben wir seit dem Sommer vehement gefordert.

Die Alten- und Pflegeheime sind immerhin beim Impfen an vorderster Stelle. Wie bewerten Sie die Idee, die zweite Impfdosis heraus zu zögern, um schneller mehr Menschen impfen zu können?

Streeck Die Idee folgt einer Logik, wäre aber aktuell nicht verantwortlich. Menschen, die nur eine Impfung erhalten haben, sind nach bisheriger Kenntnis zu rund 54 Prozent geschützt. Prozentual gesehen also nur jeder Zweite. Und eine Verzögerung der zweiten Impfung sollte aus meiner Sicht zuvor klinisch getestet werden unter kontrollierten Bedingungen, anstatt es einfach zu machen.

Jetzt ist nicht jeder, der darf, auch willig, sich impfen zu lassen, außerdem hat er womöglich auch die Wahl zwischen mehreren Stoffen – gibt es da Unterschiede?

Streeck Die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna nehmen sich nicht viel in ihrer Wirksamkeit und in ihren möglichen Nebenwirkungen. Spannender wird die Frage sein, wie mit dem Stoff von Astrazeneca verfahren wird – der zwar billiger, besser zu lagern und einfacher zu verimpfen ist – aber nach bisherigen Erkenntnissen nur zu 62 Prozent wirksam ist. Wer will einen Impfstoff haben, der im Vergleich ein Drittel weniger wirksam ist, wenn er wählen kann?

Bis genug Menschen geimpft sind, kann es dauern. Was sind denn Parameter, Anhaltspunkte, Zwischenziele, um harte Maßnahmen wieder zurücknehmen zu können?

Streeck Fast wichtiger wäre die Frage: Was sind die Kriterien, um von einem Ende der Pandemie zu sprechen? Wünschenswert sind niedrige Infektionszahlen – zehn Infektionen auf 100.000 Menschen als Zielmarke ist schön, aber zurzeit nicht realistisch. Solange der Winter andauert, ist es fast unmöglich, die Zahlen so weit runter zu bekommen. Und nach dem Sommer kommt wieder der Winter. Wir haben es auch letzten Herbst nicht geschafft, die niedrigen Infektionszahlen zu halten. Daher müssen wir darüber reden, wie viele Infektionen verkraftbar sind, wie wir einzelne besser schützen und müssen den Sommer nutzen, in die Breite zu impfen.

Welchen Einfluss hat der Winter?

Streeck Wir wissen, dass Kälte die Übertragbarkeit erleichtert. Wieso es aber eine Saisonalität bei vielen Viren gibt, ist nicht gänzlich geklärt.Gibt es weitere Viren, die Ihnen Sorgen bereiten?Streeck Es gibt einige Viren weltweit, die wir beobachten und die Pandemie-Potenzial haben. Deshalb sollten wir diese Zeit nutzen, um uns für die Zukunft vorzubereiten, besser heute als morgen. Eine Pandemie kann alle hundert Jahre passieren, sie kann aber auch nächstes Jahr vor der Tür stehen.

Wie wird die aktuelle Pandemie weitergehen?

Streeck Wir wissen von allen Coronaviren, dass die Infektionen in den Sommermonaten runtergehen. Wir werden im April wahrscheinlich langsam Erleichterung spüren und ein paar entspanntere Sommermonate erleben können.