Im Interview spricht Landrat Sebastian Schuster über Krisen und Zukunftsaufgaben im Rhein-Sieg-Kreis. Das sind seine Ziele für die Zukunft.
Rhein-Sieg-KreisLandrat Schuster im Interview: „Wir sind ein digitales Neandertal“
Corona-Pandemie, Starkregenkatastrophe, Energiekrise, Unterbringung von Flüchtlingen – der Rhein-Sieg-Kreis hatte in den vergangenen zwei Jahren viel zu bewältigen. Mit Landrat Sebastian Schuster sprachen Christian Stahl und Sandra Ebert unter anderem über das Krisenmanagement und die Aufgaben, die noch anstehen.
Wie empfinden Sie die Stimmung der Bevölkerung in diesem Jahr nach den Krisen?
Sebastian Schuster: Wir haben natürlich große Projekte und große Herausforderungen vor uns. Ich spüre aber, dass die Menschen sehr motiviert sind und nicht den Kopf in den Sand stecken. Die Leute schauen nach vorne, und jetzt, wo der Sommer kommt, geht die Stimmung sowieso wieder bergauf. Wir leben hier in einer privilegierten Gegend, man hat die Nähe zu den Zentren, wir haben den Rhein und das Siebengebirge, wo man hervorragend wandern, Fahrrad fahren und Kultur erleben kann. Wir müssen nicht im Flieger sitzen oder fünf Stunden Auto fahren, um uns entspannen zu können.
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Welche Lehren ziehen Sie aus der Pandemie?
Wir hatten ein gutes Ergebnis bei der Impfquote. Und so schlimm es war – wir haben auch erheblich profitiert, was Abläufe angeht. Bei der Flutkatastrophe waren wir im Krisenstab schon viel besser aufgestellt. Wir müssen aber weiterhin üben, noch mehr Tests machen und uns, auch personell, besser aufstellen. Das gilt speziell für die Digitalisierung. Wir haben ganz früh mit der Software Sormas gearbeitet – und mit jedem Update wurde das schlechter, das war eine Katastrophe. Letztlich haben wir die Kontaktpersonennachverfolgung dann händisch und per Fax gemacht. Das ist eine Bankrotterklärung.
Wie hat sich die Arbeit in der Kreisverwaltung verändert?
Wir haben richtig Gas gegeben. All die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die von zu Hause aus arbeiten können, haben die dafür notwendigen Geräte bekommen, wir haben die Flex-Arbeitszeiten und das Homeoffice ausgebaut. Das war mir auch sehr wichtig, da wir ja als Rhein-Sieg-Kreis auch familienfreundlicher Arbeitgeber sind, was sich auch in unseren über 350 unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen zeigt. Trotz dieser Flexibilität, die wir bieten, haben wir aber leider 50 bis 60 offene Stellen, die wir nicht besetzt bekommen.
Muss eine Kreisverwaltung in solchen Zeiten nicht auch anders aufgestellt sein?
Durch die Coronakrise haben sich beispielsweise bei den Gesundheitsämtern bundesweit Bereiche offenbart, wo man gemerkt hat: Da wurde in der Vergangenheit zu viel gespart, das war nicht gut. Hier müssen wir umstrukturieren, und das tun wir auch im Rahmen des Paktes für den öffentlichen Gesundheitsdienst.
Ein weiteres Beispiel ist das Starkregenmanagement: Da haben wir aktuell einen Beschluss des Bau- und Vergabeausschusses erhalten und können nun loslegen. Bis 2025 werden Starkregengefahrenkarten und –risikokarten und ein Handlungskonzept erstellt. Daraus entsteht neuer Arbeitsbedarf, den ich für absolut gerechtfertigt halte. Aber nicht jede neue Aufgabe führt automatisch zu Personalmehrbedarf. Wichtig ist: Wir sind für die Bürgerinnen und Bürger da!
Auf einer Skala von eins bis zehn – wo liegt der Rhein-Sieg-Kreis bei der Digitalisierung?
Ich möchte das nicht alleine auf den Rhein-Sieg-Kreis beziehen – maximal bei zwei. Wir sind ein digitales Neandertal. Wir haben Jahrzehnte verpennt. In der täglichen Arbeit haben wir das bei der Registrierung der ukrainischen Flüchtlinge gemerkt. Der Kreis selbst arbeitet derzeit mit Hochdruck daran, viele seiner Dienstleistungen auch online anzubieten – da sind wir als moderner Dienstleister in der Pflicht. Allgemein muss man jedoch sagen: In den Zeiten, als in Deutschland viel Geld da war und es keine Katastrophen gab, da haben wir viele Dinge nicht angepackt – das gilt auch für die Bahn, die Autobahnen, die Brücken, den ÖPNV. Das ist eine ganz klare Kritik von mir, da bin ich sehr unzufrieden.
Sie haben den Ball ja nun schon zum ÖPNV rübergespielt...
Ich bin eben ein alter Fußballer!
Spielen Sie noch?
Ich spiele noch Tennis, Fußball ist im Moment schwierig, weil ich mittwochabends einen Hallentennisplatz habe, da ist auch das Altherrenfußballtraining – und da gehe ich lieber Tennis spielen. Sport, Joggen, mal in die Sauna gehen und schöne lange Wanderungen machen – sonst kann man einen solchen Job nicht bewerkstelligen.
Jetzt aber zum ÖPNV: Der Verkauf des Deutschlandtickets läuft. Wie bewerten Sie die Einführung?
Ich finde es eine tolle Geschichte, es ist auch längst überfällig. Ich habe den Eindruck, die Akzeptanz dafür ist sehr hoch. Vieles wird durch das Deutschlandticket ja auch einfacher. Als Verbandsvorsteher des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg und stellvertretender Verbandsvorsteher des Nahverkehr Rheinland weiß ich aber, welche Mammutaufgabe die Umsetzung war und dass das Ticket eindeutig nicht auskömmlich finanziert ist.
Ist dabei genug in den ländlichen Raum reingehorcht worden?
Das 49-Euro-Ticket löst ja nicht das ÖPNV-Problem in der Fläche. Da ist unser Ziel, dass alle geschlossenen Ortschaften mit mehr als 200 Einwohnerinnen und Einwohnern mindestens einmal in der Stunde angefahren werden. Das muss nicht nur ein Bus sein, das kann auch ein Taxibus sein, ein Anrufsammeltaxi – in Neunkirchen-Seelscheid probieren wir ja dieses On-Demand-System aus –, die Bürgerbusse funktionieren.
Aber man muss die Übergänge von verschiedenen Verkehrsmitteln zugänglicher machen, in Form einer App zum Beispiel. Das sind wir gerade in einer Zusammenarbeit mit der RWTH Aachen. Carsharing, Zweirad, Bus und Bahn, von mir aus auch Wassertaxi – das muss man hintereinanderschalten können.
Klingt gut, aber wie ist es da mit der Finanzierung?
Die Linien kann man nicht kostendeckend bedienen. Der Rhein-Sieg-Kreis finanziert bereits seit vielen Jahren den ÖPNV mit beträchtlichen Mitteln, aktuell mit über 50 Millionen Euro pro Jahr. Aber die Kommunen bestellen immer weitere Linien. Und wir setzen um. Das ist zwar in Ordnung, aber es kostet. Gucke ich mir aber auf der anderen Seite die S-Bahn nach Eitorf an, dann ist das schon nicht schlecht: Alle zehn Minuten kommt ein Zug nach Eitorf, und man kommt in einer vernünftigen Zeit in die Kölner Innenstadt.
Eitorf ist ein gutes Stichwort: Bei ZF Friedrichshafen stehen 700 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Mit Danfoss und Kaufhof fallen weitere Arbeitgeber weg. Was kann der Rhein-Sieg-Kreis da tun?
Diese Fälle sind jeder für sich tragisch, da hängen eine Menge Arbeitsplätze dran. Das ist für die Menschen und für die Infrastruktur in den Kommunen schlecht. Ich finde es richtig, dass für einen Standort gekämpft wird. Aber man muss auch einen Plan B haben. So haben wir bei ZF mit Unterstützung der Räte frühzeitig baurechtliche Vorschriften erlassen, die dazu führen, dass die Kommune ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Nutzung hat, sollte der Standort aufgegeben werden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir für die Flächen von ZF schnell eine Nachnutzung bekämen.
Sie sehen keine Bedrohung für den Wirtschaftsstandort?
Wir haben eine breite Branchenaufstellung, viele Dienstleister und mittelständische Unternehmen mit einer Mitarbeitschaft zwischen 20 und 40 Personen – das ist eine Größenordnung, die nicht so krisenanfällig ist wie ein großer Arbeitgeber vom Kaliber Ford in Köln. Im Jahr 2021 hatten wir nur 100 Unternehmensinsolvenzen, landesweit stehen wir da im Vergleich sehr gut da.
Hat der Kreis noch Chancen zur Entwicklung? Flächen für Industrie und Gewerbe sind Mangelware.
Das ist richtig, es gibt auch keine Flächen mehr für Wohnraum. Das sehe ich als große Herausforderung an. Sie wollten doch wissen, was den Landrat umtreibt: Neben dem ÖPNV und der kollabierenden Verkehrsinfrastruktur sind das der Fachkräftemangel und Flächen für Wohnraum und Industriegebiete. Das sind die Knackpunkte. Wir sind ja in der Aufstellung eines neuen Regionalplanes. Weitere Gewerbeflächen müssen möglich sein – Industrieflächen werden wir aber kaum bekommen. Und wir müssen uns kreativer zeigen, was die Schaffung neuen Wohnraums anbelangt. Wir müssen verdichten, müssen in die Höhe bauen, möglicherweise über Dinge drüber bauen, wenn die Statik das hergibt.
Sie sind jetzt seit neun Jahren im Amt: Auf was sind Sie besonders stolz, was möchten Sie noch umsetzen?
Insgesamt bin ich sehr froh, dass meine Verwaltung die Krisen der letzten Jahren gut gemeistert hat. Das war ein richtiger Kraftakt! Mit diesem Wissen gilt es nun, die Verwaltung zukunftsfest zu gestalten. Die Digitalisierung ist da ein wichtiger Bereich, zum Beispiel mit Online-Dienstleistungen, E-Akte oder auch Prozessmanagement, das im Fokus stehen wird. Wenn ich auf den Kreis als Ganzes schaue, dann haben wir viel vorzuweisen. Wir haben eine hervorragende Schullandschaft mit hochmodernen Berufskollegs, wo wir in die Bildung der jungen Menschen in der Region investieren. In den kommenden Jahren müssen wir die Stärken des Kreises weiterentwickeln – um den Menschen, die hier leben, auch in Zukunft ein sicheres Zuhause bieten zu können.