Welchen Weg gehen die großen Kirchen in Deutschland? Die Austrittszahlen der letzten Jahre müssen den Verantwortlichen Sorgen bereiten.
Gegen die KirchenaustritteSo werben Gemeinden in der Region um ihre Gläubigen
„Viele, die austreten, behalten ja ihren Glauben. Sie wollen nur mit der Institution Kirche und mit der Leitung des Systems nichts mehr zu tun haben.“ Marianne Arndt nimmt kein Blatt vor den Mund. In Anbetracht der Austrittszahlen im katholischen Pfarrbezirk Köln-Vingst/-Höhenberg in den vergangenen Jahren ist das wenig überraschend (siehe Grafik). Die über ihre Gemeinde im Kölner Osten hinaus bekannte 60-Jährige treiben diese Zahlen um. Wenn es nach ihr ginge, sollte sich die katholische Kirche insgesamt von „aufgebürdetem Ballast verabschieden und menschlicher werden“. Ihre Themen sind dabei vor allem die mangelnde Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der katholischen Kirche sowie die Ablehnung und letztlich die Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren. „Wir müssen zudem dem Machtmissbrauch und dem sexuellen Missbrauch von Männern in der Kirche etwas entgegensetzen und das bedeutet auch, dass Frauen leitende Positionen in der Gemeinde übernehmen“, ist Arndt überzeugt.
Die Gemeinde Vingst/Höhenberg im rechtsrheinischen Köln liegt in einem der ärmsten Bezirke der Domstadt, mit vielen sozialen Problemen. Franz Meurer ist ihr Pfarrer. Der 72-Jährige ist so etwas wie ein „Hans Dampf“ im Glauben, hatte schon bemerkenswerte Auftritte in Diskussionsrunden der Stadt, war im Fernsehen und ist „ein echter Macher“ wie seine Gemeindereferentin anerkennend bemerkt. Und Meurer hat Gottvertrauen, wie er selber sagt. Es gehe mal rauf, mal gehe es runter. Für ihn gehe es in seiner Arbeit als Pfarrer aber vor allem darum, für die Menschen etwas zu tun, dass die Leute wieder sagen können: Mit Kirche sehe ich gut aus! „Ansonsten sind sie weg.“
An der Person des Kölner Erzbischofs kommt aber auch Meurer nicht vorbei – obwohl er sich viel lieber um andere Themen kümmere, wie er sagt: „Ich mache meine Arbeit nicht für den Kardinal, ich mache das für den Herrgott. Deswegen weht bei uns die Regenbogenfahne, weil wir das für richtig und christlich halten.“ Auf Nachfrage bezieht er Stellung: Selbstverständlich sei Kardinal Woelki und sein Verhalten rund um den Missbrauchskandal und die Öffnung der katholischen Kirche für gesellschaftliche Entwicklungen ein großer Faktor dafür, was gerade passiere. „Woelki versteht nicht, dass man Vertrauen bei den Menschen durch Beziehungen, Solidarität und Gemeinschaft gewinnt und nicht über Justiz und Erfolge vor Gericht.“ Er sehe, dass viele Leute deswegen austreten, weil sie das Vertrauen verloren haben. „Ich verstehe das gut“ so Meuer, „aber wie die Kirche sich entwickelt, ist letztlich Gott überlassen und der Zeit, in der wir leben.“
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Gemeindereferentin Marianne Arndt hat da eine andere Position, die sie auch erfrischend offen gegenüber Pfarrer Meurer aussprechen kann: Sie sehe die Lage viel kritischer. „Wenn sich nicht schnell etwas in der Kirche tut, werden vor allem die Frauen sich verabschieden und woanders hingehen, weil sie zu dem Schluss kommen müssen, dass sie als gleichberechtigte Gemeindemitglieder letztlich nicht gewollt sind.“ Arndt wünscht sich ein Gemeindeleben von frommen Menschen, die die alten und gewohnten Rituale schätzen, mit Gläubigen, die modern denken, Gleichberechtigung wollen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften akzeptieren. Mit welcher Strategie dies in kurzer Zeit zu erreichen ist, kann „die Rebellin“, wie Meurer freundschaftlich zu ihr sagt, allerdings auch nicht sagen.
Ihr Pfarrer sieht sich hingegen als Evolutionär, als Reformer. Kein Umsturz des Systems, keine Rücktrittsforderungen gegenüber dem Bistumschef. Er will über christliche Arbeit vor Ort überzeugen und damit den Leuten in Vingst und Höhenberg die Kirche und den Glauben im positiven Licht präsentieren. „Ich und meine Mitstreiter sehen uns nicht als kirchliche Einrichtung, sondern als Ort im Veedel, in dem jeder mit jedem zusammenkommen kann. Als Gemeinde, die etwas für die Menschen hier tut.“
Arndt stimmt hier Meurer ausdrücklich zu: „In dieser Gemeinde ist etwas Tolles passiert, weil hier ein Pfarrer vorsteht, der Charisma hat, der die Freiheit liebt und lebt und damit Dinge möglich macht, die in anderen Gemeinden nicht möglich sind. Meurer: „Zu den sozialen Projekten, die wir für die Bedürftigen in unseren Veedeln unter unserem Kirchsaal betreiben – sei es die Kinder-Kammer, die Fahrradweitergabe oder die Lebensmittelausgabe – kann ich nur sagen: Da unten brummt es!“ Bei den Mitgliedzahlen brummt es jedoch nicht.
Anderer Ort, ähnliche Probleme
Der Schauplatz könnte unterschiedlicher nicht sein: Zu der evangelischen Kirchengemeinde Brühl gehört neben zwei weitere Kirchen auch die Jakobuskirche. Sie steht im Brühler Ortsteil Badorf. Hier ist die Welt, zumindest was das Umfeld angeht, noch in Ordnung: im Dorfkern eine alte – allerdings katholische – Kirche, eine historische, ausgebaute Grundschule, saubere Straßen, sogar ein paar kleine Gassen. Nahe einem Weiher steht die einladende Jakobuskirche mit Gemeindezentrum und Kinderspielplatz. Umgeben von schmucken, gepflegten Einfamilienhäusern.
Sandra Nehring (39) ist eine der Gemeindepfarrerinnen. Um die Frage, ob Frauen leitende Positionen in der Kirche übernehmen dürfen, oder das Thema Zölibat muss sie sich als Pfarrerin einer evangelischen Kirche bekanntermaßen nicht kümmern. Dennoch verlieren auch die protestantischen Kirchengemeinden massiv an Mitgliedern.
„Es schmerzt, wenn wir weniger werden. Wir merken immer mehr, dass der Glaube und die Religionszugehörigkeit von den Eltern nicht mehr so an die Kinder weitergegeben werden, wie das früher der Fall war.“ Damit fange es an. Aber die Gründe seien vielfältig, so Nehring. Dass Kirche in Teilen der Bevölkerung keine große Rolle mehr spiele, sei sicher auch eine Krise der Institutionen insgesamt. „Aber viele sagen auch, dass sie aus finanziellen Gründen austreten. In einigen Fällen ist das sehr bewegend, weil ich merke, dass sie jeden Cent umdrehen müssen.“
Sie habe trotzdem keine Angst vor der Zukunft der Gemeinde, so die Pfarrerin. „Ich mache mir mehr Gedanken darüber, was mit dem, was ich habe, möglich ist. Da geht meine Energie hin.“
Angebote machen, auf die die Leute Lust haben
Sie will da sein, wenn es Sorgen gibt oder wenn sie von Menschen in Trauer oder anderen Notlagen gebraucht wird. Mit Projekten, „auf die die Leute Lust haben“, will sie die Menschen einladen, am Gemeindeleben teilzuhaben – zum Beispiel zu Familienfreizeiten, besonderen Gottesdiensten im Wald oder mit der Aktion „essbare Kirche“. „Wir haben dazu mit Grundschülern, Konfirmanden und der Umweltorganisation Nabu eine Wildblumenwiese sowie Gemüse- und Kräuterbeete angelegt, die regelmäßig von unserer Demenzgruppe zum Kochen genutzt werden“, erzählt die Pfarrerin. Das komme bei den Leuten gut an, wie sie sagt.
Was die gebürtige Bonnerin mit der katholischen Kölner Gemeinde in Vingst/Höhenberg verbindet, ist der Sinn für das Veedel, den sie auch besonders betont: „Die Kirche muss durch ihre Persönlichkeiten den Leuten im Veedel zeigen, dass wir für sie alle da sind.“ Sie gehe daher offen auf die Menschen zu, um ihnen das Gefühl zu geben, dass sie jederzeit willkommen sind, auch mit kritischen Fragen – ohne Zwang, ohne Bedingungen.
Zukunft der Kirchen sieht düster aus
Die Lage der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland muss den Verantwortlichen große Sorgen bereiten. Denn sie verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Die Austrittszahlen in Köln und im Rheinland, aber auch in anderen Regionen in Deutschland belegen das. In den vergangenen beiden Jahren waren sie sogar dramatisch hoch. Im evangelischen Kirchenverband Köln und Region und insbesondere im Erzbistum Köln haben sie sich in 2021 und 2022 gegenüber den Vorjahren verdoppelt oder sogar verdreifacht. Ähnlich sieht es in den Gemeinden in Köln-Vingst/-Höhenberg und in Brühl aus.
Mittlerweile sind nur noch jeweils rund 25 Prozent der hiesigen Bevölkerung in einer der beiden großen Kirchen Mitglied. Und dieser Trend könnte sich, wie die Religionssoziologin Petra-Angela Ahrens in einem Rundschau-Interview im Januar sagte, noch verschlimmern. „Die Kirchenaustritte sind eine Massenbewegung“, und schon mit den deutlich gestiegenen Zahlen in den letzten Jahren wäre eine Halbierung der jetzigen Mitgliedsbasis in den beiden großen Kirchen bis 2060 eine zu optimistische Berechnung, ist Ahrens pessimistisch.