Petra-Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD war maßgeblich an der Studie „Kirchenaustritte seit 2018 – Wege und Anlässe“ beteiligt. Raimund Neuss hat mit ihr gesprochen.
Soziologin im Interview„Es könnte für die Kirchen noch schlimmer kommen“
Schon 2021 gab es einen Rekord an Kirchenaustritten. Da dachte man noch an einen Nachholeffekt, weil in der Corona-Pandemie 2020 die Amtsgerichte schwer erreichbar waren. Nun steigen die Zahlen offenbar weiter. Was ist los?
Der Nachholeffekt mag immer noch eine Rolle spielen, ist aber nicht der Hauptgrund. Ein wichtiger Punkt dürfte sein, dass die öffentliche Diskussion nicht abreißt. Wohlgemerkt nicht nur über Skandale, sondern auch über den Anstieg der Kirchenaustritte an sich, die auch im privaten Umfeld wirken wird.
Kirchenaustritte ziehen also weitere Austritte nach sich?
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Das ist in der Tat eine Vermutung aus der Studie, die unser Institut 2021 erstellt hat. Ich zitiere mal eine Stimme aus dem qualitativen Untersuchungsteil: „Der Kirchenaustritt ist eine Massenbewegung. Man kriegt es mit, schließt sich an, der Mensch ist ein Herdentier.“ Mittlerweile gehören 42 Prozent der Menschen in Deutschland überhaupt keiner Religionsgemeinschaft mehr an, die beiden großen Kirchen organisieren jeweils nur rund ein Viertel der Bevölkerung.
Für den Osten Deutschlands haben Detlef Pollack und andere von einer Anziehungskraft der säkularen Mehrheitskultur gesprochen, die solche Prozesse beschleunigt. Im Westen sind wir zwar noch nicht ganz so weit. Aber man könnte auch hier von einem Sog-Effekt sprechen, der sich nach Überschreiten eines Kipppunktes nicht mehr aufhalten lässt. Gerade bei Jüngeren erleben wir verstärkt einen Kirchenaustritt bei Gelegenheit, der keinen besonderen Anlass wie kirchliche Skandale oder enttäuschende Erfahrungen braucht, manchmal sogar in Absprache mit Familienangehörigen oder Freunden.
Nun gibt es auf katholischer Seite viel heftigere Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und um die Situation etwa in Köln oder München als auf evangelischer Seite. Warum verliert trotzdem auch die evangelische Kirche so viele Mitglieder?
Ein zunehmend gewichtiger Aspekt ist, dass die Kirchenmitgliedschaft insgesamt weniger plausibel wird. Schon seit den 1970er Jahren wird von einer Gleichgültigkeit oder auch Indifferenz gegenüber Kirche und christlichem Glauben gesprochen, die dabei eine Rolle spielt.
Oftmals ist sie schon in der Sozialisation im Elternhaus angelegt. War aber damals die Kirchenmitgliedschaft an sich für die meisten noch weitgehend selbstverständlich, so ist sie inzwischen begründungspflichtig geworden. Die dafür notwendigen Anknüpfungspunkte an Kirche und Glauben scheinen aber zunehmend zu fehlen. Dies ist gerade bei den Jüngeren, die immer noch einen Großteil der Ausgetretenen stellen, der Fall. Darüber hinaus ist allerdings zu beobachten, dass auch Ältere inzwischen vermehrt ihrer Kirche den Rücken kehren.
Für die jüngeren Entwicklungen schlägt zudem der viel diskutierte Verlust des Vertrauens in die Kirchen zu Buche, der insbesondere die katholische, aber auch die evangelische Kirche trifft. In unserer Studie steht die Unglaubwürdigkeit der Kirche bei den Katholischen mit Abstand an erster Stelle, bei den Evangelischen zählt sie zu den Top 3 der Austrittsgründe. Auch neue Erhebungen von Forsa oder der Bertelsmann-Stiftung belegen einen massiven Vertrauensverlust in die Kirchen.
Genereller Vertrauensverlust, oder geht es um konkrete Ärgernisse?
Wenn Sie mit Ihrer Frage auf konkrete Ärgernisse oder Enttäuschungen in der Kirche vor Ort abstellen, so lässt sich sagen, dass diese zwar auch vorkommen, insgesamt gesehen aber von nachrangiger Bedeutung sind. Viel schwerer wiegen die Skandale, unter den konkreten Austrittsanlässen an erster Stelle die sexualisierte Gewalt an Kindern sowie das insbesondere der katholischen Kirche zugeschriebene Versagen, sich auf die Lebenswirklichkeit der Menschen, die Anforderungen in der modernen pluralen Gesellschaft einzulassen. An den Antworten der Befragten in unserer Studie lässt sich erkennen, dass diese Punkte bei den ehemals katholischen Ausgetretenen geradezu affektiv aufgeladen sind; sie fühlten sich ihrer Kirche kurz vor dem Austritt auch noch stärker verbunden als die vormals Evangelischen.
Welche Rolle spielen wirtschaftliche Faktoren, etwa die Energiekrise?
Ich will nicht ausschließen, dass das eine Rolle spielt, denn es gab in der Vergangenheit immer wieder Austrittsspitzen in zeitlichem Zusammenhang zu neuen finanziellen Belastungen, wie zum Beispiel mit dem Solidaritätszuschlag Anfang der 1990er Jahre. In unserer Studie, die ja vor diesen neuen Herausforderungen durchgeführt wurde, hat die Notwendigkeit, Ausgaben zu sparen, als Motiv für den Austritt noch keine besondere Rolle gespielt. Aber natürlich, wenn die Kirchenmitgliedschaft für die Leute an sich nicht mehr plausibel ist, überlegen sie sich auch, ob sie dafür weiterhin zahlen wollen.
Die beiden großen Kirchen haben sich von Professor Bernd Raffelhüschen in Freiburg vorrechnen lassen, dass ihre Mitgliederbasis bis 2060 auf die Hälfte schrumpft …
Es könnte für die Kirchen noch schlimmer kommen. Schon mit den seit 2019 deutlich gestiegenen Austrittszahlen wäre die Halbierung bis 2060 eine zu optimistische Berechnung gewesen. Es sei denn, die Austrittsquoten würden in der weiteren Entwicklung wieder erheblich unter ein Prozent fallen. Doch eine solche Trendwende ist leider nicht in Sicht. Im Gegenteil: Jetzt ziehen die Zahlen offenbar noch weiter an.
Und was heißt das für die Handlungsfähigkeit der Kirchen?
Sie haben eine Chance, wenn sie sich stärker außerhalb der Kirchenmauern bewegen, stärker auf die Menschen in deren Lebensumfeld zugehen. Die Kirchen sind ja immer noch wichtige Player in unserer Zivilgesellschaft – neben anderen Akteuren. Sie sollten sich auch als solche begreifen und sich nicht auf eine Zuständigkeit für ihre Kirchenmitglieder begrenzen. Zumindest für die evangelische Kirche kann ich sagen, dass solche Prozesse in vielen Landeskirchen auch angestoßen werden oder bereits stattfinden. Diese Entwicklungen gilt es zu befördern und – last but not least – auch weiter zu beobachten.