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Rundschau-Debatte des TagesWas ist das Geheimnis der „Methode Wüst“?

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Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen

Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen

Knapp zwei Jahre nach der Landtagswahl steht Ministerpräsident Hendrik Wüst so gut da wie nie zuvor – und das trotz durchwachsener Bilanz. Das könnte an seinem politischen Ansatz liegen.

Die Rheinkniebrücke schimmert schon im Dämmerglanz, für 18.55 Uhr sagt die Handy-App den Düsseldorfer Sonnenuntergang voraus. Das ist wichtig an diesem Montagabend vor einer Woche, denn Hendrik Wüst hat islamische Würdenträger aus Nordrhein-Westfalen zum gemeinsamen Fastenbrechen in die vierte Etage der Staatskanzlei eingeladen. Die Idee zu einem solchen Ramadan-Empfang hat der Ministerpräsident von seinem Amtsvorgänger Armin Laschet geerbt, dem interreligiöser Dialog zeitlebens viel bedeutet.

Wüst selbst hat zwar eine katholische Grundschule besucht und war mal Messdiener in seiner münsterländischen Heimatgemeinde Rhede, als sonderlich religiös gilt er indes nicht. Multikulti schien ihm lange sogar eher fremd. Einst wollte er mit einer Gruppe konservativer Jungpolitiker seiner CDU eine „deutsche Leitkultur“ einimpfen, deren Grundlage „christlich-abendländische Werte“ seien. Fast 20 Jahre ist das her. Heute lauscht er andächtig Koransuren in seinem Amtssitz und wird dabei von glücklichen Muslimen fotografiert.

Es wird ein Abend, der wieder einmal die Frage nach der „Methode Wüst“ aufwirft. Wie macht er das bloß? Deutschlands beliebtester CDU-Politiker im ZDF-Politbarometer. Chef einer außergewöhnlich stabilen schwarz-grünen Regierungskoalition im „NRW-Check“ der Rundschau und anderer NRW-Tageszeitungen, dort auch deutlich vor Parteichef Friedrich Merz im Kanzlerkandidaten-Vergleich.

Wandlungskünstler der Macht

Der immer noch erst 48-jährige Wüst ist als Wandlungskünstler der Macht nach oben gekommen. Seit er mit 15 Jahren die Junge Union seiner Heimatstadt wiederbelebte, hat er es immer wieder geschafft, ein neues öffentliches Bild von sich zu entwerfen. Er startete als schneidiger Jungunionist, machte Karriere als rechter Hardliner, erfand sich nach einem politischen Absturz als Mann des CDU-Wirtschaftsflügels neu und kommt heute im Gewand des sanften Konservativen mit schwarz-grüner Agenda daher. Er betreibt Politik diszipliniert wie ein Leistungssportler und ist in der Lage, sich programmatisch immer wieder zu häuten – wenn es denn der Zeitgeist diktiert.

Wüst hat verinnerlicht, dass Politik im bildmächtigen Social-Media-Zeitalter für den flüchtigen Augenblick taugen und Verhetzungspotenzial um jeden Preis meiden muss. Ein Fehler wiege heute schwerer als 1000 verpasste Chancen, hat einer mal treffend formuliert, der das System Wüst bestens kennt. Die Opposition in NRW beklagt seit zwei Jahren ohnmächtig, dass Wüst bei Kita, Schule, Verkehr, Sicherheit, Wirtschaftswachstum substanziell noch nichts zum Besseren gewendet habe. Die „Schwiegersohn-Attitüde“ werde sich totlaufen. FDP-Landeschef Henning Höne diagnostizierte „eine politische Sehnenscheidenentzündung“, da Wüst bei Problemen immerzu mit dem Finger nach Berlin zeige.

Selbstbeherrschung statt Kantigkeit

Seiner Popularität kann das nichts anhaben. Beim Ramadan-Empfang betreibt Wüst ungewollt ein wenig Werkschau. „Fasten bedeutet, sich zu konzentrieren auf das Wesentliche. Auf das Unwesentliche – meist ist das Unwesentliche einem aber besonders lieb – mal zu verzichten“, sagt er da. Seine persönliche Bußübung besteht im Regierungsalltag vorrangig darin, auf alles zu verzichten, was Politikern lieb ist. Im öffentlichen Auftritt glänzen zu wollen etwa. Wüst bringt die Selbstbeherrschung auf, so gut wie nie einfach drauflos zu reden. Jeder Auftritt ist sorgsam geplant, jedes Bild und jede Botschaft antizipiert. Und wenn ihm doch mal etwas rausrutscht wie das Label „Nazi-Partei“ für die AfD, wird es flugs zur Strategie veredelt.

Bei Herrschaftsgesten ertappt man ihn ebenfalls selten. Wüst wirkt zu jeder Tageszeit zugewandt, höflich, aufmerksam, bodenständig. Er versagt sich auch diese Sehnsucht nach Kantigkeit, die viele Politiker umtreibt. Während die CDU-Basis gerade Parteichef Merz für das neue Grundsatzprogramm feiert, das beim Parteitag im Mai beschlossen werden soll, vernebelt Wüst sein Desinteresse an solcherlei Selbstvergewisserung kaum. Die CDU sei „nie Programmpartei“ gewesen, behauptet er. Sein bescheidender Wunsch an das neue Manifest: dass die „gesamte Breite“ der Union sichtbar bleibe.

Politik, die niemanden ausschließt

Leitkulturschwüre, Bürgergeldpopulismus, militärisches Säbelrasseln, Cannabis-Horrorszenarien, Migrations-Alarmismus, Grünen-Bashing – Wüst nimmt an solchen Debatten fürs Stammklientel nicht mehr teil. Er sieht sich auch nicht als Präfekt einer christdemokratischen Glaubenskongregation, der über die Reinheit der Parteilehre wacht. Kritiker zetern, Wüst stehe für nichts außer wetterwendigem Machtpragmatismus. Man kann es auch deutlich positiver sehen: Nichts braucht eine unversöhnliche und in Partikularinteressen atomisierte Gesellschaft so dringend wie einen freundlichen Schnittmengentypen, auf den sich alle irgendwie einigen können.

Wüst hat das Talent dazu, weil er Politik „für die Mitte“ unbedingt inklusiv betreibt: Keiner soll sich ausgeschlossen fühlen. Das Konzept „Einer für alle“ orientiert sich mehr an Umfragen als an Ideologie und Programm. Es akzeptiert, dass die meisten Menschen heute mit Politik ohnehin „nichts am Kopp“ haben wollen, wie Wüst im westfälischen Idiom gern formuliert. Die Gewählten sollen machen, aber bitte geräuschlos. Und in jedem Fall: professionell.