Die Christdemokraten etablieren sich an der Spitze, Rot und Grün sind geschockt von der eigenen Schwäche. Und die AfD kann inzwischen auch in NRW nach dem Motto „Radikal ist egal“ agieren.
Analyse am Tag danachDiese fünf Lehren kann NRW aus der Europawahl mitnehmen
Die Europawahl hat die politischen Verhältnisse auch in NRW zurechtgerüttelt. Formal wurde zwar nur darüber abgestimmt, wen das Bundesland ins EU-Parlament nach Brüssel und Straßburg entsenden darf. Doch dieser wichtige Stimmungstest hält auch fünf versteckte Lehren für die Düsseldorfer Landespolitik bereit.
Erstens: Die CDU ist an Rhein und Ruhr unangefochten die Nummer eins
Zwei Jahre nach der Landtagswahl hat sich die NRW-CDU als unumstrittene Nummer eins im Land etabliert. Ministerpräsident Hendrik Wüst bringt mit seinem smarten Kurs der mitfühlenden Mitte vor allem ältere Stammwähler und bürgerliche Milieus an die Urne. Mögen Kritiker zurecht monieren, dass der CDU-Mann mit dem Schwiegersohn-Charme mehr repräsentiere als regiere und die Selbstvermarktung bei Social Media konsequent der politischen Problemlösung vorziehe – es scheint bislang schlicht zu funktionieren.
Obwohl Schwarz-Grün kaum messbare Regierungserfolge in NRW vorzuweisen hat, ist Wüst zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands aufgestiegen. Nicht einmal der dramatische Absturz des grünen Koalitionspartners konnte ihm am Sonntag etwas anhaben. Als Erbpfleger der Merkel-CDU kommt der freundliche Herr Wüst deutlich besser an als Parteichef Friedrich Merz und hält die NRW-CDU über dem Bundesschnitt der Union.
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Sein Problem: Bislang ist nicht erkennbar, dass ihm Merz trotz mauer eigener Persönlichkeitswerte im Herbst die Kanzlerkandidatur überlassen könnte. Ein relativer Sieg gegen die desaströse Ampel würde dem bald 69-jährigen Parteichef ja zum Lebenstraum Kanzleramt reichen. Die CDU ist überdies eine strukturkonservative Partei, die in der Regel ihrem Vorsitzenden nicht in den Rücken fällt. Und sollten sich Merz und CSU-Chef Markus Söder wirklich derart in der K-Frage verhaken, dass die Partei doch nach Wüst ruft, wäre das keine gute Basis für einen Erfolg bei der Bundestagswahl im Herbst 2025.
Zumal es unterschiedliche Befindlichkeiten der Landesverbände innerhalb der Union gibt: Die Ost-CDU hat mit einer in Teilen rechtsextremen AfD zu kämpfen. Das erzeugt eher Schwarz-Grün-Allergie und hält das Merkel-Trauma der Flüchtlingskrise 2015 bis heute wach. Ein westdeutscher Jurist mit Junge-Union-Aura wie Wüst, der sich mittlerweile auf einem Lastenrad fotografieren lässt und die AfD „gefährliche Nazi-Partei“ nennt, gilt da nicht als Lösung des Rechtsrucks zwischen Erzgebirge und Bitterfeld. Prognose: Ist Merz erst einmal zum Kanzlerkandidaten ausgerufen, schrumpft der Hoffnungswert Wüst auf Normalmaß. Dann sind wieder Kita-Misere, Kommunalfinanzen und A40-Staus seine Messlatte.
Zweitens: Die Volkspartei-Träume der Grünen in NRW sind ausgeträumt
Nach der Europawahl 2019 konnten die NRW-Grünen vor Kraft kaum laufen. Die klimabewegte Jugend schien der Öko-Partei vor allem in den nordrhein-westfälischen Ballungsräumen auf Dauer mindestens Augenhöhe zu CDU und SPD zu verschaffen. Es galt nur als Frage der Zeit, bis sie in der Düsseldorfer Staatskanzlei oder gar im Kanzleramt einziehen. Den jähen Absturz vom Sonntag sah offenbar niemand voraus. Konjunkturkrise, Wohnungsnot, Bildungsmisere, Migrationsprobleme – der Themenfokus hat sich gerade unter jungen Leuten dramatisch verschoben, ohne dass es die Grünen mitbekommen hätten. Die AfD hat sich über die sozialen Netzwerke vor allem bei den Erstwählern, die die Grünen lange als ihr natürliches Reservoir begriffen, breit gemacht und mit der Kampagne „Sei schlau, wähl blau“ kräftig gepunktet.
Nun ist das Wehklagen groß. Zur ehrlichen Analyse der NRW-Grünen würde gehören, dass die gefeierte „Geräuschlosigkeit“ der schwarz-grünen Regierungsarbeit vor allem mit dem auf sein Modernitätsimage bedachten Ministerpräsident Wüst nach Hause geht. Außerdem müsste man sich eingestehen, dass verheerendes Ampel-Stückwerk wie das Heizungsgesetz völlig an grünaffinen Wechselwählern vorbei geht. Und gerade die kritische Grünen-Wählerschaft dürften sorgsam beobachten, ob vollmundige Versprechen wie der Kohleausstieg 2030, eine kommunale Altschuldenlösung, ein zweiter Nationalpark, 10000 zusätzliche Lehrer, ein weiteres beitragsfreies Kita-Jahr und 1000 zusätzliche Windkraftanlagen wirklich bis 2027 kommen. Die Europawahl gibt eine Vorahnung, wie schnell Kredit bei den Bürgern aufgezehrt ist.
Drittens: Die NRW-SPD wird aus ihren Wahlniederlagen nicht schlau
Die SPD in Nordrhein-Westfalen kann nicht ignorieren, dass seit der Abwahl auf Landesebene im Jahr 2017 die Basis immer weiter erodiert ist. Als Kanzlerpartei in der einstigen „Herzkammer“ nur noch auf 17,2 Prozent zu kommen, erschien noch vor zehn Jahren undenkbar. Aus jeder Wahlniederlage scheinen die Genossen konsequent die falschen Schlüsse zu ziehen. Die NRW-Jusos warfen dem Kanzler postwendend vor, mit der späten Ankündigung einer Abschiebeoffensive „rechte Narrative in der Asylpolitik“ bedient zu haben. Man muss Scholz seine Sprachlosigkeit vorwerfen, das uncharismatische Mäandern zwischen Grünen und FDP oder das permanente Verwirrspiel um die Waffenhilfe für die Ukraine – aber dass er zu wenig Rücksichten nähme auf linke Befindlichkeiten, ist Unsinn.
Das einst rote Ruhrgebiet hat sich blau gefärbt. Die AfD sammelt den Frust ein, den die SPD in ihren früheren Hochburgen hinterlässt. Hier war die Sozialdemokratie in ihren besten Zeiten immer konservative Kümmererpartei und Anwältin der arbeitenden Mitte. Mit dem Anschmiegen ans grüne Lebensgefühl der Akademiker, mit dem Ignorieren von Migrationsproblemen, mit der Preisgabe der inneren Sicherheit oder mit Bürgergeld- und Frühverrentungsdebatten hat man diesen Anspruch aufgegeben. Die alte Regel, dass eine hohe Wahlbeteiligung immer der SPD nützt, gilt nicht mehr. Die Mobilisierung hilft den anderen, enttäuschte Genossen bleiben im Zweifel zuhause.
Viertens: Die AfD muss auch in NRW keine Rücksichten mehr nehmen
Hierzulande hatte es die AfD lange schwerer als in anderen Teilen Deutschlands. An Rhein und Ruhr sind Integration und Toleranz eben seit Jahrzehnten gelernt, die großen Städte galten lange als Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Doch die Immunität gegen rechtes Gedankengut hat spürbar nachgelassen. Die Lehre aus der Europawahl lautet für die NRW-AfD, die sich lange als gemäßigte Ausgabe der Höcke-Partei gerierte: Wir können uns von Russland bestechen und von China bespitzeln lassen, wir können mit „Remigrationsplänen“ Tausende Demonstranten auf die Straße treiben und die etablierten Medien gegen uns aufbringen, wir können mit „Dexit“-Fantasien die größten Arbeitgeber des Landes alarmieren, der Ministerpräsident kann uns „gefährliche Nazi-Partei“ nennen und der Verfassungsschutz uns beobachten – es ist alles völlig egal. Abgehängte, Wutbürger, bürgerliche Protestwähler und überzeugte Rechtsextremisten bilden mittlerweile auch zwischen Aachen und Bielefeld ein festes Amalgam. Es ist ein gefährliches Paralleluniversum entstanden abseits der bislang der tonangebenden Institutionen in NRW.
Fünftens: Der FDP bleibt immerhin die Kernwählerschaft erhalten
Die NRW-FDP behauptet ihre Nische. Drei Jahre Koalitionskrawall in der Ampel haben die Liberalen zwar zwischenzeitlich in Existenznöte gestürzt, doch das Wahlergebnis vom Sonntag weist zumindest auf eine treue Kernwählerschaft an Rhein und Ruhr hin. Für die Haushaltsberatungen auf Bundesebene verheißt das nichts Gutes: Bundesfinanzminister Christian Lindner dürfte mit Rückendeckung seines Heimatverbandes eine harte Linie gegenüber Scholz und Habeck fahren – Koalitionsbruch nicht ausgeschlossen. Die Rolle als wirtschafts- und finanzpolitisches Korrektiv gewinnt Kontur. In der NRW-FDP hat man durch die Europawahl etwas mehr Sicherheit gewonnen, dass vorgezogene Neuwahlen nicht automatisch im Desaster enden müssen. Auf Landesebene wird man noch etwas befreiter aufspielen und weiter versuchen, den einst bei den Liberalen hochgeschätzten Ministerpräsidenten Wüst als substanzlosen Polit-Darsteller zu desavouieren.