Köln – In Wolfgang Niedeckens Arbeitszimmer steht eine Kiste mit Polaroid-Aufnahmen. Werbetafeln aus New York, Künstlerfreunde, leere Hallen sind darauf zu sehen. Ein Polaroid ist das Gegenteil eines schnellen Handybildes, weil die Filme viel Geld kosten und man daher gut überlegt, welcher Moment festgehalten wird. „Mit dem Medium bin ich durch Wim Wenders Film ,Alice in den Städten’ in Kontakt gekommen“, sagt Niedecken. Der Film (1974) erzählt von der Reise eines Journalisten in die USA, von der er mit nichts als einer Handvoll Polaroids wiederkommt. Es ist ein Roadtrip, der von der Suche eines Mannes nach Freiheit und Glück erzählt.
Wolfgang Niedecken, der am Dienstag 70 Jahre alt wird, hat davon einiges erlebt. An die frühen BAP-Jahre hat er sich in einem Song auf dem letzten Album erinnert, im Video schlendert er zwischen Polaroid-Bildern umher wie durch eine Galerie voller Erinnerungsstücke. Mit Verwunderung schaut er auf diese Jahre, in denen der einzige Karriereplan darin bestand, einen Kasten Bier für die nächste Probe zu organisieren. „Es war für uns der große Traum. Wir haben einfach das gemacht, wozu wir Lust Lust hatten.“
Zur Person
Im Severinsklösterchen in der Kölner Südstadt kam Wolfgang Niedecken 1951 zur Welt. Von 1970 an studierte er Freie Malerei an den Kölner Werkschulen am Ubierring.
gründete er die Band BAP. Mit den Alben „Für Usszeschnigge“ und „Von Drinne Noh Drusse“ stürmte die Band die Charts und wurde bundesweit erfolgreich. Bis heute hat BAP 20 Studio-Alben veröffentlicht.
Der Musiker ist verheiratet mit der Fotografin Tina Niedecken, das Paar hat zwei Töchter. Aus erster Ehe hat er zwei Söhne. Im vergangenen Jahr wurde Niedecken zweifacher Großvater. Weiterer Star im Haus, mit klarer Präferenz für den Sänger: Hund Numa. (mft)
Die Band BAP, die immer Niedeckens Band BAP war, wird in diesem Jahr 45 Jahre alt, was für Rockmusiker eine verboten lange Zeit ist. Für viele Fans gibt es eine Zeit mit Gitarrist Klaus „Major“ Heuser („Er hat uns beigebracht, wie das geht mit dem Rock’n’ Roll“) und eine danach. Die Anfänge, als der Kunststudent Niedecken mit Hans Heres die Formation gründete, ist ausreichend beschrieben: der kölsche Bandname, aus dem das zweite „P“ aus optischen Gründen“ gestrichen wurde, die Proben in Hersel, der erste Gig im Nippeser Mariensaal, als es galt gegen die geplante Stadtautobahn anzusingen.
All das gehört zum Gründungsmythos einer Formation, die mit ihren kölschen Texten niemals überregionalen Erfolg haben konnte – und der genau das gelungen ist.
„Der Jung muss gar nix, außer glücklich sein“
Mittendrin der Mensch Niedecken, der seinen Weg finden musste als Jugendlicher in den vermufften 60er Jahren. Der Vater, aus einer Winzerfamilie aus Unkel am Rheins stammend und streng katholisch, misstraut der künstlerischen Leidenschaft. Zumal sich der Opa mütterlicherseits als Kirchenmaler mehr schlecht als recht durchs Leben hangelte. Das Prinzip von Mutter Tinny: „Der Jung muss gar nix, außer glücklich sein.“
„Die entscheidende Weggabelung in meinem Leben war der Weg zur Kunsthochschule“ erzählt er im Gespräch mit der Rundschau. Er war gerade vom Gymnasium geflogen, und dem Vater, dem Lebensmittelhändler an der Severinstorburg, blieb gar nichts anderes übrig, als den Sohn ziehen zu lassen. „Er hat sich Sorgen gemacht, wie Väter das tun.“ Bei aller Freude an Freiheit und Kunst sei es im Studium auch darum gegangen, „es richtig zu machen“. Nicht, um es dem Vater zu beweisen, sondern um Vertrauen zurückzuzahlen. „Die Familie hat dafür gearbeitet, dass ich studieren konnte.“
Der moralische Kompass war also gestellt. Niedecken hat alles in sich aufgesogen, was ihn in der Kölner Südstadt umgeben hat: Arbeiter, Alte und Arme, Spinner und Sinnsuchende. Am Ende wurde es dann die Musik, mit der er eine Sprache fand, all das zu beschreiben. „Wolfgang nimmt sein Leben mit auf die Bühne“, sagt Tote-Hosen-Sänger Campino. „Ich glaube, dass er auch immer wieder aus Erlebtem schöpft und diese Sachen in tolle Lieder packen kann.“
Den Titel „Südstadt-Dylan“ bekam er im Chlodwig-Eck verpasst. Die Liebe und seine besondere Beziehung zu Bob Dylan hat der Sänger jüngst in einem Buch dokumentiert. Viel Ehrerbietung klingt da durch, er hat das nie verheimlicht. Gerade, wenn er von den Verbindungen im Songwriting berichtet: „Mir war es immer wichtig gewesen, die Reaktionen der Leute nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich hatte schnell begriffen, dass ich mit nachvollziehbaren, wenn auch oft abstrusen Geschichten das Publikum am besten bei der Stange halten konnte.“ Und zwar auf Kölsch. Weil es seine Heimatsprache ist, aber auch weil sie assoziative Texte ermöglicht, durchaus im Dylan’schen Sinn.
In den 80er Jahren, als in jeder Studentenbude „Kristallnaach“ und „Verdamp lang her“ lief, bediente Niedecken eine Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit, für viele wird er in den biederen Kohl-Jahren zum Vorbild und Weggefährten. „Ich habe mich nie angepasst“, sagt er heute nicht ohne Stolz. Niedecken singt gegen Rechts („Arsch huh“), für die Umweltbewegung, reist später nach Afrika, gründet eine Hilfsorganisation für traumatisierte Kinder, bekommt das Bundesverdienstkreuz. „Gutmensch ist für mich ein Unwort“, sagt er. Dass ihm die Bodenhaftung nicht abhanden gekommen ist, hat seinen Ruhm in all den Jahren beflügelt. Nichts schätzt das Land mehr als einen Star, der nahbar bleibt, der auch etwas von sich preisgibt.
Das hat er reichlich getan. Zwei Ehen, vier Kinder, Niedecken ist auch ein Familienmensch, einer, der seinen Wurzeln nachspürt. Als er zum ersten Mal über den Missbrauch gegen ihn im Rheinbacher Internat berichtet, verhallt das fast ungehört. Erst um die Jahrtausendwende schlug der Bericht über den Pater Wellen. Der Musiker war da längst aus der katholischen Kirche ausgetreten. Er schaut heute voller Unverständnis auf die Aufarbeitung im Bistum, bezeichnet sich selbst als „restkatholisch“ (Ich würde gerne mit dem Herrgott einen trinken gehen“). Ganz sicher habe beim Schlaganfall 2011 „jemand die Hand über mich gehalten“. Er überstand die Erkrankung durch das schnelle Eingreifen seiner Frau Tina unbeschadet. Er weiß dieses Glück zu schätzen, lebt seitdem gesünder, verbringt viel Zeit auf dem Heimtrainer.
Blick auf Köln mit deutlich mehr Liebe
Niedecken wird – vielleicht gerade außerhalb der Stadt – als Kölner Stimme wahrgenommen. Wie Heinrich Böll hat er sich an Köln gerieben, den Karneval nicht an sich rangelassen („Da hat sich viel verändert“), aber immer mit deutlich mehr Liebe als Abneigung. Inzwischen nähert er sich einer gewissen Denkmalhaftigkeit, schaut mit Milde auf die Stadt, kann sogar den unzähligen Liebesliedern etwas abgewinnen, dem FC sowieso – aber das ist eine Geschichte für sich.
An seinem Geburtstag wollte er mit BAP in der Kölner Arena auf der Bühne stehen. Die Corona-Krise hat das verhindert. „Möglicherweise habe ich mein letztes Konzert schon gespielt“, sagt Niedecken bitter lächelnd. Um schnell zu erklären, dass die Tour im kommenden Jahr nachgeholt wird. Wie alle Künstler treibt ihn die Pandemie um, weil BAP längst eine „Firma“ mit vielen Beschäftigten ist, ein Laden, der besser laufen sollte.
Zunächst bleibt nichts übrig, als „janz höösch“ Geburtstag zu feiern. Möglichst tränenarm am besten. Und wenn er bald wieder auf einer Bühne stehen dürfte, dann wäre nicht auszuschließen, dass er von da oben ein Polaroidbild macht.