Kölner Dom bei NachtEin nächtlicher Besuch im Köln Dom
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Köln – Der goldene Schlüssel steckt schon, und langsam schließt sich die schwere Hauptpforte des Kölner Doms. „Hallo! Hallo!“, ruft eine ältere Dame. „Kann ich noch rein?“ Der Domschweizer, mit roter Robe und buschigem Schnäuzer eine auffallende Erscheinung, hält die Türe kurz fest. „Leider nein“, sagt er. „Wir schließen für heute. Morgen um sechs sind wir wieder für Sie da.“ Die Frau tritt noch einen Schritt vor: „Morgen bin ich nicht mehr da. Ich bin extra von weit her angereist.“ Volk bedauert: „Das ist schade, aber auch eine Kirche hat Öffnungszeiten.“ Damit fällt die Türe ins Schloss.
Für den Bettler vor der Tür ist dies das Zeichen zum Aufstehen. „Wenn der Dom zu ist, ist für mich Schicht“, sagt der 47-Jährige. Jeden Tag sitzt er von 17.00 Uhr bis 19.30 Uhr am Hauptportal vor einem Kaffeebecher und einer brennenden Kerze. „Die brauch ich, damit die Leute mich nicht übersehen in der Menschenmasse. Man muss sich bemerkbar machen.“ Der Dezember ist eine vergleichsweise gute Zeit für ihn: „Weihnachten - da geben die Leute noch am ehesten. Je weiter es aufs Fest zugeht, desto mehr. Ich habe keine Wohnung, ich brauch das Geld, um eine Unterkunft zu bezahlen.“
Im Dom hat sich derweil ein verblüffender Effekt eingestellt: Es ist, als hätte man den Ton abgedreht. Das Rauschen des Verkehrs, die Schritte und das Gemurmel der Passanten, die Lautsprechermusik des benachbarten Weihnachtsmarktes - alles weg. „Gänsehaut pur“ empfindet in diesem Augenblick der Architekt Jörg Sperner von der Dombauhütte. Er bietet zweimal im Monat abendliche Führungen durch den Dom an, aber an diesem Abend ist er allein. „Da kann ich den Dom nochmal ganz anders auf mich wirken lassen.“ Dompropst Gerd Bachner - der Hausherr der Kathedrale - findet: „Jetzt fühlt man sich hier wie auf einem anderen Stern.“
Dumpf und feierlich beginnt der Dicke Pitter zu läuten, die größte frei schwingende Glocke der Welt im Südturm des Doms. Es heißt, dass ihr unverkennbar tragend-melancholischer Ton jeden richtigen Kölner sofort innehalten lässt.
Tägliche kommen 20.000 Menschen
Beim Domschweizer macht sich Erleichterung breit. „Erleichterung darüber, dass ich den Dienst gut verrichtet habe. Acht Stunden sind ja nicht nichts.“ Jeden Tag wird der Dom von bis zu 20.000 Menschen besucht, schätzungsweise sechs Millionen sind es im Jahr. Allein in den letzten fünf Minuten vor der Schließung hat Volk noch drei Besucher aufgefordert, ihre Mütze abzunehmen - aus Respekt vor dem Gotteshaus. Jetzt verabschiedet er sich in den Feierabend, der Nachtdienst übernimmt.
Sein Kollege ist eigentlich auch Domschweizer, aber schon mehrmals für den Nachtdienst eingesprungen. Zu den wichtigsten Aufgaben gehört das Abräumen der vielen hundert Kerzen, die im Laufe des Tages im Dom angezündet worden sind. Oft sind Hoffnungen, Wünsche und Gebete damit verknüpft - so strömten beispielsweise nach dem Messer-Attentat auf die Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker viele Menschen spontan in den Dom, um dort eine Kerze für sie anzuzünden.
Jede Stunde dreht der Nachtdienst seine Sicherheitsrunde. „Überall knackt es“, erzählt er. „So viele Geräusche habe ich noch nie zuvor gehört. Wenn man nachts allein hier durchgeht, dann ist das doch auch unheimlich.“ Das Knacken kommt vom Holz. „Holz arbeitet ja. Ich habe einen großen alten Wohnzimmerschrank, der knackt auch so.“
Der Dicke Pitter hat nun aufgehört zu läuten. Nun herrscht wirklich tiefe Stille im hohen Dom. Wie riesige Baumstämme ragen die Säulen in die Höhe, und die Kreuzrippen unter dem Gewölbe wirken wie ausladende Äste eines Urwalddachs.
Plötzlich ein schepperndes Geräusch: Es ist der Schlag einer alten Uhr. Tagsüber im Gedränge der vielen tausend Besucher hört man sie nicht. Jetzt ist sie geradezu ohrenbetäubend.
„Ich habe mal eine Nachtführung gemacht, während es draußen geregnet hat. Und da war ein Geräusch, das ich noch nie gehört hatte. Es dauerte etwas, bis mir klar wurde: Das ist der Regen, der auf die 10.000 Quadratmeter Fensterfläche trommelt. Es hörte sich an, wie wenn man die Dusche aufdreht und das Wasser gegen den Duschvorhang prasselt.“
Mittelalter-Kulisse mit Zuggeräuschen
Man kann jetzt auch ganz leise sprechen und wird doch mühelos verstanden. Jedes Husten hallt unangenehm laut von den Wänden wider. Nur im Chor, dem ältesten Teil der Kathedrale, ist es anders. Dort hat man den Eindruck, als laufe ein Film mit falschem Ton: Man sieht das größte Chorgestühl des Mittelalters und die prunkvollen Grabmäler der Erzbischöfe - und hört dazu Durchsagen der Deutschen Bahn und das Quietschen haltender Züge. Denn die vordersten Bahnsteige des Hauptbahnhofs sind von hier aus nur wenige Meter entfernt.
Jetzt sind Schritte zu hören - der Domorganist kommt. Er übt regelmäßig nachts, wenn er hier ganz allein ist: „Man ist dann viel konzentrierter, weil die Geräusche weg sind. Der Raum bringt einen dazu, völlig für sich zu sein. Oft schaue ich irgendwann auf die Uhr und stelle fest, es ist schon nach drei in der Nacht.“
Der Dom, so sagt er, „ist jetzt völlig anders als am Tag: durch die Ruhe und die Größe“. Die Größe des Doms werde erst bei Nacht wirklich erfahrbar: „Je dunkler es ist und je weniger man vom Raum sieht, desto besser kann man ihn spüren. Durch den Klang.“ Mehrmals schon hat er erlebt, dass blinde Zuhörer nach ihrem ersten Konzert im Dom auf ihn zukamen und erzählten, jetzt hätten sie zum ersten Mal eine Vorstellung davon, wie groß diese Kirche wirklich ist.
Unwohl fühlt sich der Organist so allein in der Finsternis nicht: „Der Dom ist ein ruhender Walfisch, er beschützt einen. Man spielt hier tief in seinem Bauch angenehm behütet.“ Am liebsten hat er es, wenn nur die kleine Pultbeleuchtung seiner Orgel hoch auf der Empore angeschaltet ist - und sonst um ihn herum tiefe Dunkelheit herrscht.
Dann legt er los und füllt den riesigen Raum mit Musik. Mal scheint der tiefe Bass die Fenster regelrecht erzittern zu lassen, mal zirpt von ganz weit oben hoch und dünn die wehmütige Oberstimme. Es hört sich anders an als bei einem Konzert in der voll besetzten Kathedrale - die Menschen verändern die Akustik. Der leere Dom hat seinen eigenen Klang.
Nach ein paar Stunden zieht einem die Kälte in die Füße, auch wenn man dicke Wollstrümpfe trägt. „So richtig ungemütlich wird's Ende Januar, Anfang Februar“, weiß er aus Erfahrung. „Wenn es schon zwei Monate kalt gewesen ist und der Stein so richtig ausgekühlt ist. Dann braucht man nach einer Stunde mindestens 'nen heißen Kaffee.“
Dompropst Bachner hat festgestellt, dass man nach einiger Zeit im nächtlichen Dom langsamer geht, leiser spricht und gelassener wird. Architekt Sperner bestätigt: „Ich bin jetzt ganz ruhig, ganz entspannt. Und genau das ist es eben: Das macht er mit einem in der Nacht, dieser Dom.“ (dpa)