Serie „Spurensuche“Von Béla Bartóks skandalträchtiger Inszenierung in Köln
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In der Serie „Spurensuche“ stellen wir Personen und ihre Zeit in Köln vor.
Heute blicken wir auf Béla Bartóks skandalträchtige Inszenierung im Opernhaus am Rudolfplaz im Jahr 1926.
Mit schrecklichem Lärm fängt alles an. Er dringt in ein trostloses Zimmer in einer anonymen Großstadt. Drei Zuhälter halten sich hier versteckt. Sie zwingen ein schönes Mädchen, Männer anzulocken, um diese dann auszurauben. Zunächst begleiten das Mädchen nur arme Schlucker, die der Mühe nicht wert sind und einfach hinausgeworfen werden. Dann aber bringt sie schließlich einen reichen, unheimlichen Chinesen mit. Spätestens als das Mädchen für ihn tanzt, hat er sich in sie verliebt und stellt ihr nach. Das Mädchen schreckt vor ihm zurück. Da stürmen die Zuhälter aus ihrem Versteck, fallen über ihn her, rauben ihn aus und versuchen, ihn mit einem Kissen zu ersticken.
Aber der Mandarin stirbt nicht. Also durchbohren sie ihn mit einem rostigen Messer. Auch das scheint ihm nichts auszumachen, so dass sie ihn schließlich an einer Lampe aufhängen – wieder ohne Erfolg. Mit verliebten Augen blickt der Mandarin zum Mädchen, das sich schließlich seiner erbarmt. Als sie ihn in ihre Arme nimmt, beginnen seine Wunden zu bluten, und er sinkt nach kurzem Todeskampf zu Boden.
„Die Kölner sind im Allgemeinen im Theater sehr geduldig“, schreibt das Kölner Tageblatt anlässlich der Uraufführung von Béla Bartóks Ballett Der wunderbare Mandarin am Samstag, 27. November 1926 im Opernhaus am Rudolfplatz. Sie störten sich dann auch kaum an der revolutionären, avantgardistischen Komposition, die Bartók selbst als „höllische Musik“ beschrieb: „Den reichen kakophonen Segen ließen sie widerstandslos über sich ergehen“, heißt es im Tageblatt.
Aber diese „abschreckende Handlung“ von Menyhért Lengyel, vor allem „die widerliche Szene der Mordversuche“, war einer öffentlichen Bühne nicht würdig, meint das Rheinische Volksblatt: „Allzu groß war doch der Unterschied des Eindrucks auf die Gemütsstimmungen, den die vorangegangene Oper im Gegensatz zu der nachfolgenden Pantomime auf das Publikum ausübte.“ Begonnen hatte nämlich die Aufführung mit Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg. Den Zeitungen zufolge ernteten die Künstler hier „für ihre vortrefflichen Darbietungen den lebhaften Beifall des Hauses. Nicht minder trugen die Inszenierung mit ihren eindrucksvollen Lichteffekten und die musikalischen Leistungen zu diesem Erfolge bei. Nicht endenwollendes Händeklatschen rief die Hauptdarsteller und den Komponisten immer wieder vor den Vorhang.“
Dann folgte Der wunderbare Mandarin, bei dem es Bartók eigenen Aussagen zufolge um die „Hässlichkeit und Widerlichkeit der zivilisierten Welt“ ging. Keine Bühne hatte sich bislang an das Werk herangetraut, bis ein ungarischer Freund Bartóks die Uraufführung riskierte: Eugen Szenkar, der 1924 als Nachfolger von Otto Klemperer Kölner Generalmusikdirektor geworden war und Am Botanischen Garten 66 wohnte.
„Unzählige Proben mit dem Orchester waren dafür nötig, denn das Stück war sehr schwer und zu jener Zeit für ein Orchester ungewöhnlich kompliziert“, schreibt Szenkar in seinen Lebenserinnerungen. Mit dem Skandal, den das Werk hervorrufen sollte, hatten dann aber weder Komponist noch Dirigent in dieser Form gerechnet. „Am Schluss der Aufführung gab es ein Pfeifkonzert und Pfui-Rufe“, erinnert sich Szenkar.
„Bartók war anwesend, wie er überhaupt bei allen Proben im Zuschauerraum saß! Der Skandal war so ohrenbetäubend und drohend, dass der eiserne Vorhang fallen musste! Trotzdem hielten wir durch und hatten keine Angst vor dem Vorhang zu erscheinen, worauf die Pfiffe erst recht fortgesetzt wurden! Wohl waren einzelne ,Bravo'-Stimmen zu hören, aber das alles ging in dem Tumult verloren.“
Am nächsten Tag schrieben die Kritiken, es handele sich um ein „Kaschemmenstück niedrigster Art“, die Musik sei „das Entsetzlichste, was einem menschlichen Ohr zugemutet werden kann“. Bartók selbst zeigte sich, so berichtet Szenkar, von all dem Trubel unbeeindruckt. Er „wünschte nur unbedingt eine kleine Korrektur in einer Klarinettenstimme einzutragen, und seine einzige Sorge war, bald in die Oper zu gehen und die Stimme aus dem Orchestermaterial herauszusuchen“.
Oberbürgermeister Konrad Adenauer jedoch ließ Generalmusikdirektor Eugen Szenkar unverzüglich ins Oberbürgermeisteramt zitieren. „Ich ahnte Böses! Dr. Adenauer empfing mich kühl und reserviert, platzte aber sogleich mit der Sprache heraus und machte mir die bittersten Vorwürfe, wie es mir eingefallen wäre, so ein ,Schmutzwerk' aufzuführen, und forderte die sofortige Absetzung des Werkes! Ich versuchte, ihn von seinem Irrtum zu überzeugen und sagte ihm, Bartók wäre unser größter zeitgenössischer Komponist, man möge sich nicht vor der musikalischen Welt lächerlich machen! Doch Adenauer beharrte auf seinem Standpunkt, und das Stück musste vom Spielplan verschwinden!“
Rückendeckung erhielt Adenauer, indem die Stadtverordnetenversammlung bei der Verwaltung die sofortige Zurückziehung der Pantomime vom Spielplan des Opernhauses beantragte sowie die sofortige Einberufung der Theaterkommission forderte. So wurde das Werk, das Bartók für eine seiner besten Kompositionen hielt, noch vor der zweiten Aufführung abgesetzt.
Die Entrüstung war höchstwahrscheinlich kalkuliert und politisch motiviert. Am 4. Dezember 1926 sollte nämlich im Reichstag über das sogenannte Schmutz- und Schundgesetz abgestimmt werden, das dann auch nicht zuletzt unter Verweis auf den Kölner Skandal mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Am 8. Dezember traf sich dann die Arbeitsgemeinschaft der Katholiken Groß-Kölns im Großen Saal in der Kölner Messe zu einem öffentlichen „Einspruch gegen der Überhandnehmen der heidnischen Sittenlosigkeit“. Einstimmig wurde beschlossen zu verlangen, „dass eine städtische Bühne nur der reinen und der veredelnden Volksbildung dient und nicht herabgewürdigt wird zu einer Stätte für heidnische Zuchtlosigkeit“.
Nach dem Skandal kam der virtuose Pianist Béla Bartók noch einmal nach Köln zurück, um im März 1928 im Gürzenich sein 1. Klavierkonzert zu spielen. Das Ballett Der wunderbare Mandarin, heute ein Klassiker und fester Bestandteil im Orchesterrepertoire der frühen Moderne, sollte Béla Bartóks letztes Bühnenwerk sein.
Anselm Weyer hat als Literaturwissenschaftler in Köln promoviert und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kölner Stadtgeschichte.