Berlin – Bis zum Sonntag hat Deutschland laut Bundesgesundheitsministerium 15,65 Millionen Dosen Corona-Impfstoff von drei Herstellern geliefert bekommen. 10,9 Millionen von Biontech/Pfizer, 3,6 Millionen von Astrazeneca und 1,1 Millionen von Moderna. In den Oberarmen landeten bis Sonntag aber „nur“ 12,88 Millionen Dosen. Das heißt unterm Strich: 2,77 Millionen Impfdosen – 17,8 Prozent – liegen auf Halde. Dabei kann jede Spritze Leben retten und die dritte Corona-Welle bremsen.
Wo liegt der Grund für den „Impfstau?“
Weil alle drei Impfstoffe zwei Mal verimpft werden sollen, wird ein Teil für die Zweitimpfungen aufgespart. Manche Länder legen deutlich höhere Reserven an als andere. Zieht man die Sicherheitsreserve von den gelieferten Dosen ab, zeigt sich: Von Biontech wird inzwischen flächendeckend zügig (fast) alles verimpft, was möglich ist, die Lagerhaltung beträgt nur noch 10 Prozent der Lieferungen. Bei Moderna ist zwar bislang nur die Hälfte der verfügbaren Dosen verabreicht worden, aber wegen der geringen Menge bleibt der Stau überschaubar.
„Der Bund muss deutlich praxisnäher werden“
Landkreis-Präsident Reinhard Sager platzt angesichts der Berliner Impfstoff-Politik der Kragen: „Der Bund muss endlich zuverlässiger mitteilen, wie viel von welchem Hersteller geliefert wird. Das muss besser werden, damit man vor Ort in den Impfzentren rechtzeitig weiß, in welcher Kalenderwoche wie viele Einheiten von welchem Produkt geliefert werden.“ Die Mitteilungen seien „immer noch zu unzuverlässig und mitunter auch zu kurzfristig“, so der Vorwurf an Gesundheitsminister Spahn. Der Bund solle sich auch gegenüber den Herstellern für zuverlässigere Lieferzusagen einsetzen und Druck machen. „Das ist nichts, das wir hinnehmen sollten oder sich irgendwie einruckelt“, meint Sager. „Das Management vor allem des Bundes muss deutlich praxisnäher werden.“ (tob)
Gravierend ist das Problem bei Astrazeneca: Von den gut 3,63 Millionen Dosen konnten 1,03 Millionen nicht gespritzt werden. Bei dem britisch-schwedischen Impfstoff gibt es – auch nach der Impfpause – noch immer ein gewaltiges Akzeptanzproblem. Die Politik konnte – trotz bestätigter Wirksamkeit und Verträglichkeit – den Eindruck nicht zerstreuen, dass es sich um einen Impfstoff zweiter Klasse handelt.
Vielerorts wird gemeldet, dass Menschen ihre Astrazeneca-Impftermine sausen lassen. Hinzu kommen unzuverlässige Liefertermine sowie der (inzwischen korrigierte) Fehler, das Serum erst nicht für Über-65-Jährige zuzulassen, die in der Regel weit weniger wählerisch sind als jüngere Personen.
Obwohl alle Länder mit den Widrigkeiten zu kämpfen haben, gibt es beim Astrazeneca-Stau gravierende Unterschiede. So waren mit Stand von vor einer Woche in Sachsen nur 28 Prozent der gelieferten Dosen verimpft, in Mecklenburg-Vorpommern nur 34, in Schleswig-Holstein immerhin 56, in NRW 59 und in Bremen sogar 82 Prozent.
Wie könnte das Impftempo erhöht werden?
Diese Quoten erhärten den Verdacht, die Landesregierungen hätten großen Einfluss aufs Impftempo. Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn betonen, die Impfverordnung gebe ausreichend Spielraum, um bei Terminabsagen schnell andere Impfwillige zu spritzen, das werde nicht ausreichend genutzt. Eine Impfärzten berichtet am Montag auf Twitter von ihren Erfahrungen: „67 Dosen Biontech verimpft. Die Menschen waren durchweg dankbar und freundlich. 40 sind leider nicht zum Termin erschienen, wir durften 65-jährige Begleitpersonen nicht impfen. Wir bürokratisieren uns zu Tode.“
Auch die Kommunen verlangen mehr Pragmatismus der Länder: Einige erlaubten das Impfen erst, wenn alle Dosen für beide Impfungen vorrätig seien. „Das muss jetzt flächendeckend beendet werden“, verlangt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. „Das Saarland und Rheinland-Pfalz sind diesen Weg von vorneherein gegangen.“ So habe das Saarland schon bei 12 Prozent der Bevölkerung eine erste Impfung vorgenommen. NRW liege erst bei 9,3 Prozent und Sachsen erst bei 8,7 Prozent.
Gibt es schon Praxisbeispiele, die funktionieren?
Ein Krankenhaus im Berliner Raum hatte genug von Impfstau und abgesagten Terminen. Ende vergangener Woche wurde nach ungenutzten Dosen gefragt. Was am Abend übrig war, wurde kurzerhand angestellten Ärzten übergeben, die im Freundes- und Bekanntenkreis nach Impfwilligen suchen konnten.
Das könnte Sie auch interessieren:
Das Krankenhaus wollte sich auf Nachfrage zunächst nicht zu der Aktion äußern. Dafür berichtet eine 47-Jährige: „Am Freitag um 17 Uhr klingelte das Telefon. ,Komm heute Abend vorbei, wir haben Astrazeneca für Dich‘“, sagte ihr ein befreundeter Klinikarzt, der fünf Dosen erhalten hatte. „Eine Stunde später war ich geimpft“, sagt sie. Auch ein Termin für die Zweitimpfung wurde vereinbart. „Dabei dachte ich, ich wäre erst im Sommer dran. Was für eine tolle Aktion.“