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Schmerzensgeldprozess gegen ErzbistumPriester, Missbrauchtäter – und Privatmann?

Lesezeit 6 Minuten
Melanie F. im Prozess gegen das Erzbistum Köln.

Melanie F. mit ihren Anwälten im Prozess gegen das Erzbistum Köln, ganz links Anwalt Eberhard Luetjohann.

Nach jahrelangem Missbrauch durch den ehemaligen Pfarrer Hans-Bernhard U. verklagt sein einstiges Pflegekind das Erzbistum. Doch das Landgericht Köln macht dem Opfer wenig Hoffnung auf Erfolg. Wann haftet die katholische Kirche für Taten eines Geistlichen?

Als Tatort soll der Kaplan die Badewanne bevorzugt haben. Von 1980 bis 1985 lebte Hans-Bernhard U. mit zwei Pflegekindern, einem Jungen und einem Mädchen, im Pfarrhaus von Kerpen-Türnich. Während er dem Jungen nichts antat, wurde das Mädchen – Melanie F. – immer häufiger zum Opfer sexueller Übergriffe, in der Regel nach ihrer Darstellung samstags im Badezimmer. Seit Juli befasst sich das Landgericht Köln mit einer Klage von Melanie F., die vom Erzbistum Köln 830.000 Euro Schmerzensgeld verlangt. Das Bistum hat darauf verzichtet, Verjährung geltend zu machen.

Wie hat sich das Kölner Gericht bisher geäußert?

Am 17. September tritt das Gericht wieder zusammen, aber die Richter haben Melanie F. und ihren Anwälten wenig Hoffnung gemacht: Auch wenn der Kölner Kardinal Joseph Höffner die Annahme der Pflegekinder genehmigt hatte, kam das Gericht Anfang Juli zu der vorläufigen Einschätzung, „dass hier die Missbrauchstaten ausschließlich außerhalb der Tätigkeit als Priester erfolgt seien, nämlich im privaten Bereich als Pflegevater“. So fasste es eine Gerichtssprecherin damals zusammen. In diesem Sinne hatte auch das Erzbistum argumentiert. Mündlich verglichen die Richter U.s Rolle als Pflegevater mit der genehmigten Nebentätigkeit eines staatlichen Beamten, für die der Dienstherr ja auch nicht verantwortlich ist.

Wann haftet die Kirche für das Handeln eines Geistlichen?

In einem Erwiderungsschreiben vom 30. August, das der Rundschau vorliegt, widerspricht Melanie F.s Anwalt Eberhard Luetjohann dieser Einschätzung entschieden. Höffner habe mit seiner Erlaubnis die Pflegschaft „in den Aufgabenbereich des Klerikers verbindlich einbezogen“ und damit dessen Amtspflichten „konkretisiert“. Er stützt sich auf den Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, der mit dem Dienstverständnis der katholischen Kirche argumentiert: Ein Priester sei ständig, 24 Stunden am Tag, im Dienst und jederzeit verfügbar. Aber haftet die Kirche deshalb für all sein Tun?

Der in Rom lehrende Staats- und Kirchenrechtler Stefan Mückl bestreitet das. Mangels Aktenkenntnis könne er sich zwar nur über rechtliche Fragen äußern, sagt er. Klar sei aber, dass das Gericht nicht über kirchliche Standespflichten zu urteilen habe, sondern den gesetzlichen Tatbestand der Amtshaftung anwenden müsse. Es gehe also darum, welche Handlungen U. tatsächlich in Ausübung seines Amtes vollzogen habe. „Und die Amtspflichten des Priesters sind klar definiert“, hatte Mückl bereits im Mai dem Domradio gesagt: „das Wort Gottes zu verkünden, die Sakramente zu verwalten, die allgemeine Pastoral und all das, was alles mit einem spezifischen Amt, etwa dem des Pfarrers, zu tun hat.“

Das Opfer beichtete beim Täter – welche Rolle spielt das?

Dagegen fragt Luetjohann: „Wann verwandelte sich der Kleriker vom heiligen Priester in einen brutalen Vergewaltiger? Und wie lange war er dann jeweils Priester oder Privatmann bis zur Rück-Verwandlung?“ Nach seiner Darstellung nahm U. nach den Missbrauchstaten dem Mädchen „oft noch in der Badewanne die Beichte ab und sprach sein Opfer von ihren Sünden frei“. Danach habe er Melanie, die auch Ministrantin war, über die für die Abendmesse geplanten Themen – Lesungen, Predigtinhalte – informiert. Für den in Münster lehrenden Kirchenrechtler Thomas Schüller widerspricht es „dem gesunden Menschenverstand“, hier noch zwischen Amtsausübung und privatem Handeln zu unterscheiden.

Mückl sieht es genau andersherum. „Weder ist die Badewanne der richtige Ort für die Sakramentenverwaltung, noch durfte in der hier in Rede stehenden Konstellation der Priester das Sakrament überhaupt spenden“, erklärt er der Rundschau unter Bezug auf die Kanones 964 und 977 des kirchlichen Gesetzbuchs. „Eine derartig schwerwiegende rechtswidrige und der kirchlichen Disziplin zuwiderlaufende Praxis der Sakramentenverwaltung geschieht nicht mehr „in Ausübung’“, erläutert er und führt das Beispiel eines Polizisten an, der auf einem Streifengang einen Nebenbuhler erschießt. „Dafür haftet der Dienstherr nicht, obwohl der Polizist im Dienst war (Streifengang) und der Dienstherr ihn mit der Tatwaffe ausgestattet und somit erst das Delikt ermöglicht hat.“

Wie argumentieren Kritiker des Kölner Gerichts?

Lüdecke und der Kölner Staatsrechtler Stefan Rixen halten es dagegen für falsch, „Unterscheidungen des staatlichen Beamtenrechts … allzu geschwind auf den Bereich der jeweiligen Religionsgesellschaft“ zu übertragen. „So wird aber das Selbstverständnis der Religionsgesellschaften verkannt, und zwar zulasten der Klägerinnen und Kläger“, schreiben die beiden Professoren unter Bezug auf den Kölner Prozess im „Verfassungsblog“. Das Gericht müsse schon von Verfassung wegen (Grundgesetz, Artikel 140 über die Eigenverantwortung der Kirchen) das kirchliche Selbstverständnis zu Grunde legen. So sieht es auch Schüller.

Aber soll die Kirche damit für jedes Handeln eines Priesters verantwortlich sein? „Wenn ein Pfarrer eine rote Ampel überfährt, kann der Bischof natürlich nichts dafür“, sagt Schüller. Die Amtshaftung sei im Einzelfall zu prüfen – nach staatlichem Recht, aber auf der Basis des kirchlichen Selbstverständnisses. Entscheidende Frage laut Schüller: Hat die Kirche U. ausreichend beaufsichtigt? Oder hat Höffner „eine für das Kind gefährliche Situation herbeigeführt und unkontrolliert gelassen“, wie Luetjohann meint?

Nach den bisherigen Äußerungen des Gerichts geht Schüller davon aus, dass Melanie Fs. Klage abgewiesen wird. Dann würden ihre Anwälte in die nächste Instanz gehen. Nur in einem Punkt haben die Kölner Richter im Juli eine vage Möglichkeit gesehen, die Kirche in Haftung zu nehmen: Dann, wenn die Klägerseite nachweisen könnte, dass U. die Kinder schon während seiner Ausbildung zur Übernachtung im Kölner Priesterseminar empfangen durfte. Das soll er laut Klage getan haben, laut Erzbistum ist das nicht nachweisbar. Anwalt Luetjohann will sich damit nicht abfinden. Er fordert die Ladung von zwölf Geistlichen, die gemeinsam mit U. im Kölner Priesterseminar ausgebildet wurden. Darunter ist der heutige Berliner Erzbischof Heiner Koch, hinzu kommen unter anderem ein ehemaliger Kölner Pfarrer und Dechant und ein Düsseldorfer Gefängnisseelsorger im Ruhestand. Ob das Gericht diese Männer wirklich vorladen wird, ist mehr als ungewiss.

Wie steht es um die Verantwortung des Jugendamtes?

Bleibt noch eine ganz andere Frage. War es nicht – Höffners Genehmigung hin oder her – das Jugendamt Bonn, das die Kinder dem Geistlichen anvertraut hatte? Hat das Jugendamt ausreichend kontrolliert, wie U. mit ihnen umging? In einem Brief vom 4. August 1980, Absender: das Bonner Kinderheim Maria im Walde, ist zum Beispiel von einer Haushälterin die Rede, obwohl U. entgegen Höffners Anweisung nie eine beschäftigt hat (was auch die kirchlichen Zuständigen nie überprüften). Und Melanie sei bei einer Befragung „etwas zurückhaltend“ gewesen. Hätte das ein Alarmsignal sein müssen? In einem Prozess um Missbrauchstaten eines Lehrers, auf den auch Mückl verweist, hatte das Landgericht Aachen eine Klage gegen das örtliche Bistum zurückgewiesen, Begründung: Der Lehrer war zwar Priester, arbeitete aber an einer staatlichen Schule und beging seine Taten an einem Schüler. Die Kirche sei die falsche Beklagte.

Luetjohann bestreitet die Verantwortung des Jugendamtes nicht. Die Stadt Bonn hafte gesamtschuldnerisch mit dem Erzbistum, meint er – aber angesichts der Beweislage sei es einfacher, die Diözese in die Pflicht zu nehmen. Auch wenn das Gericht wenig Neigung zeigt, ihm zu folgen.

Wie sieht es strafrechtlich aus?

Strafrechtlich ist der Fall U. abgeschlossen. Der Missbrauchtäter wurde 2022 vom Landgericht Köln wegen 110 Fällen von Missbrauchs an neun Mädchen zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die an Melanie F. berücksichtigen Taten konnten strafrechtlich allerdings nicht mehr berücksichtigt werden, da sie bereits verjährt waren. Das Urteil ist rechtskräftig, Papst Franziskus anschließend gegen U. auch die kirchenrechtliche Höchststrafe verhängt und ihn aus dem Klerikerstand entfernt.