Kirchenrechtler und Anwalt zum Fall Melanie F.„Die Sache ist noch nicht zu Ende“

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Pfarrer U. im Strafprozess 2022: War der Missbrauch seines Opfers Melanie F. seine Privatsache, mit der die Kirche nichts zu tun hatte?

Pfarrer U. im Strafprozess 2022: War der Missbrauch seines Opfers Melanie F. seine Privatsache, mit der die Kirche nichts zu tun hatte?

Die Missbrauchsbetroffene Melanie F. hat offensichtlich kaum Chancen, ihre Schmerzensgeldforderung gegen das Erzbistum Köln durchzusetzen. Experten fürchten weitreichende Konsequenzen.

„Wir kapieren einfach nicht, was in den Köpfen vorgeht“, sagt der Bonner Rechtsanwalt Eberhard Luetjohann. Die Köpfe sind die der drei Berufs- und zwei Laienrichter des Landgerichts Köln, die am Dienstag deutlich gemacht hatten, dass die Missbrauchbetroffene Melanie F. wohl kaum eine Chance hat, Schmerzensgeld vom beklagten Erzbistum Köln zugesprochen zu bekommen (wir berichteten). Und das, obwohl der Täter Hans-Bernhard U., der sie jahrelang sexuell missbraucht hat, Geistlicher – zunächst Diakon, dann Priester – war. Obwohl er sie mit Zustimmung von Erzbischof Joseph Kardinal Höffner als Pflegekind angenommen hatte. Obwohl die Taten in einem Pfarrhaus geschahen. U. ist wegen anderer Missbrauchstaten 2022 zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, allerdings nicht wegen des strafrechtlich bereits verjährten Falles F.

Verbrechen nicht im Rahmen der Amtsausübung?

„Er steigt mit ihr in der Badewanne und vergewaltigt sie dann, anschließend nimmt er ihr die Beichte ab, und das ist dann seine Privatsache“, so fasst Luetjohann die Konsequenz aus den Darlegungen des Vorsitzenden Richters Jörg Michael Bern zusammen. Zugespitzt ist das tatsächlich die Argumentation der Zivilkammer: So schrecklich das Leid der Klägerin sei – die katholische Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei nicht haftbar. U. habe seine Taten nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes begangen, sondern im Rahmen einer vom Erzbischof genehmigten Nebentätigkeit.

„Würde die Auffassung des Richters Schule machen“, sagt der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller, „dann hätten Betroffene in Deutschland keine zivilrechtliche Chance, keine mehr“ – auch nicht in Verfahren gegen die evangelische Kirche. In Wirklichkeit stünden Priester durch ihre Gehorsamsverpflichtung „unter der dauernden Observanz ihres Bischofs“, es gebe die Pflicht der Dechanten und ihrer Vertreter, die Priester regelmäßig zu besuchen und sich um ihre Lebensführung zu kümmern.

Kirchenrechtler: Täter nutzen Rolle als Seelsorger aus

So hatte auch der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke nach der Verhandlung argumentiert, während der er sich für eine mögliche Aussage als sachverständiger Zeuge bereit gehalten hatte – das Gericht sah keinen Bedarf, ihn anzuhören, genauso wenig wie den Tübinger Kollegen Sven-Bernhard Anuth. Die Kontrollpflicht des Bischofs gelte nur für dienstliche, nicht für private Angelegenheiten, so das Gericht.

Wie immer die Kirche das Priestertum verstehe, laut Bern kann das nicht das staatliche Recht bestimmen. Geurteilt werde nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Dem widerspricht Schüller. Richter Bern dürfe nicht „sein eigenes, säkulares Verständnis von privat und dienstlich“ auf die Kirche anwenden. Gewiss seien Richter 24 Stunden am Tag Richter und Professoren 24 Stunden lang Professoren, aber sie hätten ein Privatleben. Bei Priestern sei es anders. Das ganze Tatgeschehen sei nur möglich, wo Priester ihre Rolle als Seelsorger ausnützten, „um die Opfer körperlich und geistig verfügbar zu machen“. Es sei „realitätsfern und pervers“, davon auszugehen, dass ein Priester seine Opfer zwar im dienstlichen Kontext rekrutieren könne, sie dann aber privat vergewaltige. Das wäre ein „Freibrief“ für die Kirche, sagt auch Anwalt Luetjohann: „Dann können Priester eigentlich machen, was sie wollen – die Kirche ist immer außen vor.“

Zwar, das räumt Schüller ein, habe ein Bischof nicht immer die Chance, eine Straftat seiner Priester zu erkennen. Festzustellen, wo da eine Amtshaftung bestehe, sei der schwierigste Punkt in so einem Prozess. „Aber zu behaupten, es gebe überhaupt in einer priesterlichen Existenz ein Segment, das privat sei – das ist Quatsch.“

Immerhin hatte Höffner ja bei der Genehmigung der Pflegevater-Rolle angeordnet, dass U. eine Haushälterin anzustellen hatte – was U. nicht tat. Kontrolliert hat das Bistum dies nie. Und: Mit der Beichte, die U. dem Kind nach den Missbrauchstaten abnahm, nutzte er – wenn auch missbräuchlich – seine Amtsgewalt. Sind das alles trotzdem reine Privatangelegenheiten? Das Erzbistum, dessen Position sich das Gericht weitgehend zu eigen machte, möchte dazu nicht Stellung nehmen, sondern erklärt nur: „Dem Erzbistum Köln ist es ein wichtiges Anliegen, dass ein staatliches Gericht über den erwähnten Fall befindet und allgemeine rechtliche Klarheit schafft.“

Anwalt: Umkehr der Beweislast

Auch Anwalt Luetjohann hofft, diese Klarheit erreichen zu können – aber im Sinne seiner Mandantin. Zunächst einmal werde man gegenüber dem Gericht Stellung nehmen und auch noch einen weiteren Zeugen benennen – wen, sagt er nicht.

Schon 2023 hatte die Rundschau Luetjohann gefragt, warum er denn nicht das Jugendamt verklage. Denn das Amt und nicht das Erzbistum, darauf wies jetzt Richter Bern hin, hatte Melanie F. ja damals in Alfter in die Obhut des Täters gegeben. Ähnlich wie 2023 sagt Luetjohann, nach seiner Kenntnis werde das Jugendamt seine Entscheidung „ordentlich geprüft“ haben, und man habe der katholischen Kirche damals eben vertraut. „Wenn es gesagt hätte, Herr Kardinal, wir wollen jetzt mal prüfen, ob Ihr Priester das Kind ordentlich behandelt – das Erzbistum wäre denen an die Kehle gesprungen.“

Und dann ist da noch das Problem fehlender Beweismittel. Vernichteter Aufzeichnungen etwa über die von der Klägerseite erwähnten Aufenthalte des Kindes bei U. im Priesterseminar. Vorgänge wie die Beichten, die sich naturgemäß ohne Zeugen abspielten. Luetjohann: „Jetzt sind wir beim klassischen Fall der Beweislastumkehr.“ Die Gegenseite sei beweispflichtig – „denn wem glaubt das Gericht? Glaubt es dem Opfer und ihrem Wahlbruder“ – einem weiteren Pflegekind, einem Jungen, den U. betreute, an dem er aber keine Verbrechen beging.

Angesichts der schwierigen Beweislage könnte Melanie F. auch einen anderen Weg gehen. 70 000 Euro hatte sie schon als freiwillige Zahlung vom Erzbistum erhalten. Die heute zuständige Unabhängige Kommission hat jüngst mehrfach solche Leistungen rückwirkend erhöht. Luetjohann lehnt das für seine Mandantin ab. Da seien vielleicht 300 000 Euro drin – in einem Fall, in dem Täter U. sogar eine Abtreibung an seinem Opfer vornehmen ließ. Luetjohann: „Ist das angemessen?“ Er verlangt für Melanie F. weiter 850 000 Euro und sagt: „Die Sache ist noch nicht zu Ende.“

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