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Opferanwalt Luetjohann über Missbrauchfälle„Der Staat ist der Hauptschuldige“

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Dr. Eberhard Luetjohann   Foto: Meike Böschemeyer

Dr. Eberhard Luetjohann Foto: Meike Böschemeyer

Er verklagt für seine Mandanten katholische Bistümer in Missbrauchfällen: Anwalt Eberhard Luetjohann über das Leid der Opfer, den Sinn von Schmerzensgeld und die Zukunft der Kirchen.

Sie sind 85 und haben eine lange Karriere als Wirtschaftsjurist hinter sich – und jetzt vertreten Sie in Prozessen Missbrauchbetroffene gegen die katholische Kirche, auf eigenes Risiko. Warum tun Sie sich das an?

Weil es sonst niemand macht, außer meinen Kollegen und mir. Missbrauch gibt es überall. Die Missbräuche in der katholischen Kirche sind nur zwei bis 2,3 Prozent aller Fälle. Die meisten finden innerhalb von Familien statt. Aber in einer Kirche hat es noch eine andere Qualität. Die Kirchen, gerade die katholische Kirche, erheben einen hohen moralischen Anspruch, sie werden sogar im Grundgesetz erwähnt, wirken beratend bei der Gesetzgebung mit, etwa bei Fragen wie Abtreibung. Das macht den Unterschied gegenüber anderen Fällen aus.

Sie haben in einem Prozess gegen das Erzbistum Köln Schadenersatz von 300 000 Euro für den Missbrauchbetroffenen Georg Menne durchgesetzt. Was wird das bewirken?

Der Fall Menne war für einen Anwalt recht einfach. Normalerweise müssen wir uns lange mit Beweisfragen beschäftigen. Das war hier nicht nötig, denn es gibt ja das Gercke-Gutachten, Fall Nummer 15. Genauso klar war von Anfang an, dass es hier um Amtshaftung geht. Die Kirche muss als Körperschaft des öffentlichen Rechts für das Handeln ihrer Amtsträger einstehen. Das Erzbistum musste zahlen, das hat auch der Vorsitzende Richter sofort gesagt. Es ging also nur um die Höhe.

Das Gericht hat 300 000 Euro festgelegt, viel mehr als die bisher von der Kirche gezahlten Leistungen, aber eine halbe Million weniger als von Herrn Menne gefordert. Daran könnten sich weitere Urteile orientieren …

Wir sind damit auch nicht zufrieden. Herr Menne hat lange mit sich gerungen, ob er in die Berufung gehen soll. Am Ende sah er sich dazu nicht in der Lage. Er ist einige Tage nach der Entscheidung zusammengebrochen. Was ihn so getroffen hat: Er hat kein Gehör gefunden, bei den Bischöfen nicht und bei Gericht nicht. Richter Singbartl hat am Anfang einmal zu ihm hingeschaut: Sie sind Herr Menne? Das war es dann. Danach haben Richter und Beisitzer nicht ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet. Das Urteil verstößt drastisch gegen das Recht auf rechtliches Gehör, Artikel 103 im Grundgesetz. Es geht auch an keiner einzigen Stelle auf den Kernpunkt unserer Klage ein, die Verletzung der Menschenwürde. Eigentlich müsste jedes derartige Urteil mit dem Satz beginnen, dass die beklagte Partei gegen die Menschenwürde und damit gegen das Grundgesetz, Artikel 1, verstoßen hat.

50 000 für den geohrfeigten Herrn Pocher. 300 000 für Herrn Menne, der eine Serie von Vergewaltigungen erlitten hat! Können Sie sich eine schlimmere Verletzung der Persönlichkeitsrechte vorstellen?

Dass der Schadenersatz nicht so hoch ausfiel wie gefordert, hat das Gericht ja damit begründet, dass es dem Kläger vergleichsweise gut gehe.

Oliver Pocher ist von einem Rapper geohrfeigt worden. Dafür hat er 50 000 Euro erhalten – 5000 Euro wegen der Körperverletzung, 45 000 Euro wegen der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte. 50 000 für den geohrfeigten Herrn Pocher. 300 000 für Herrn Menne, der eine Serie von Vergewaltigungen erlitten hat! Können Sie sich eine schlimmere Verletzung der Persönlichkeitsrechte vorstellen? Darauf ist das Kölner Gericht überhaupt nicht eingegangen. Es hat die große Chance vertan, das Recht fortzubilden.

Ohne das vom Erzbistum Köln bestellte Gutachten wäre der Prozess so nicht möglich gewesen, und Kardinal Woelki hat auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Gebührt ihm dafür nicht Anerkennung?

Woelkis Entscheidung ist oft als Zeichen von Einsicht interpretiert worden. Wir teilen diese Einschätzung nicht. Wir gehen davon aus, dass er hier erstmals auf Anwälte gehört hat. Es gibt ja Anwälte, die sagen, wir müssen auf Verjährung verzichten, sonst landen wir im Marianengraben der Unmoral. Tausende treten dann aus. Andere Juristen raten der Kirche von so einem Verzicht ab.

Was werden andere Bischöfe tun?

Die Bischofskonferenz hat in der Ordnung des Verfahrens vor der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen, der UAK, explizit auf das Geltendmachen von Verjährung verzichtet, auch wenn das die Bistümer nicht bindet.

Aber da geht es nicht um Gerichtsverfahren.

Richtig, die Kommission ist ein juristisches Nullum, man kann sie nicht verklagen. Sie ist ein Bezahlservice der Bischofskonferenz, eine Art Paypal. Schon der Begriff Anerkennungsleistung ist nicht hinnehmbar. Was will man anerkennen? Dass Kinder sich haben missbrauchen lassen? Tatsächlich geht es um Schmerzensgeld, und zwar ohne Verjährung.

Ich glaube: Woelki wollte vermeiden, dass die fünfte Kammer des Landgerichts Köln diesen Rechtsmissbrauch feststellt. Das hätte eine enorme Ausstrahlungswirkung gehabt.

Was würde denn passieren, wenn ein Bistum Verjährung geltend macht?

Das wäre ein Rechtsmissbrauch. Das Gercke-Gutachten zeigt doch, wie Kardinäle und Generalvikare Jahrzehnte lang ignoriert haben, was Kindern da angetan wurde. Jahrzehntelang hat man das staatliche Recht, Artikel 1 des Grundgesetzes, ignoriert. Dann kann man nicht plötzlich, wenn es ans Geld geht, sagen, ach, da gibt es in ebendiesem Recht ja die Verjährung. Ich glaube: Woelki wollte vermeiden, dass die fünfte Kammer des Landgerichts Köln diesen Rechtsmissbrauch feststellt. Das hätte eine enorme Ausstrahlungswirkung gehabt. Deshalb hat er die Einrede der Verjährung nicht erhoben.

Sie vertreten auch die Pflegetochter des verurteilten Pfarrers U. und verlangen für sie 850 000 Euro vom Erzbistum Köln. U. hat sie missbraucht und geschwängert.

Das Opfer hat das nicht erkannt als junges, gerade geschlechtsreif gewordenes Mädchen. U. hat das aber bemerkt, weil ihr morgens oft übel wurde. Er ist mit ihr zu einem Arzt gegangen und sagte ihr, es werde ihr eine Spirale eingesetzt. Tatsächlich wurde aber das ungeborene Kind getötet. Der Papst betrachtet solche Täter als Auftragsmörder. Die Klägerin, Frau F., hat uns im Juni 2022 mandatiert. Mein Kollege Hans Walter Wegman und ich haben schon im Juli 2022 – da war die Menne-Klage noch gar nicht eingereicht – an Kardinal Woelki geschrieben und ihm angekündigt, was auf ihn zukommt. Wir haben ein Jahr lang versucht, mit dem Erzbistum ein Gespräch über den Fall F. zu führen. Keine Reaktion. Jetzt liegt der Fall bei derselben Kammer in Köln, die im Fall Menne so falsch geurteilt hat. Wird Richter Singbartl die Größe haben, zuzugeben, dass er sich damals geirrt hat? In England, Frankreich oder Amerika würde in einem solchen zweiten Fall nicht wieder die gleiche Kammer entscheiden, weil sie als befangen gelten würde. Wir werden aus Respekt vor der Gerichtsbarkeit keinen Befangenheitsantrag stellen. Aber wir werden die Kammer fragen, was ein abgetriebenes Kind wert ist. 50 000? 100 000? Eine Million?

Wie geht es weiter?

Das Landgericht hat dem Erzbistum jetzt eine ungewöhnlich lange Erwiderungsfrist eingeräumt, bis zum 13. November. Was die Schmerzen des Opfers verlängert.

Machen Sie solche Erfahrungen nur in Köln?

Wir vertreten eine durch Missbrauch in der Kindheit schwer geschädigte Frau gegen das Bistum Aachen. Auch ihr Fall ist dokumentiert – im Aachener Gutachten. Wir waren mit ihr bei Bischof Dieser. Er war überrascht, dass sie mit Anwälten kam. Und er hat das Problem, dass die Einrede der Verjährung rechtsmissbräuchlich wäre, nicht erkannt.

Ich habe meinen Hausarzt gefragt, ob er es schafft, dass ich noch 50 Jahre lebe. Er fragte: Warum? Ich sagte: Wegen der Prozesse, die ich noch zu führen habe. Ich muss den Staat verklagen.

Im Kölner Fall U. sind doch auch andere im Boot. Das Pflegeverhältnis – in Alfter – wäre nicht ohne das Ja des Kreisjugendamtes möglich gewesen. Verklagen Sie den Rhein-Sieg-Kreis auch?

Ich habe meinen Hausarzt gefragt, ob er es schafft, dass ich noch 50 Jahre lebe. Er fragte: Warum? Ich sagte: Wegen der Prozesse, die ich noch zu führen habe. Ich muss den Staat verklagen. Die Justizminister haben mit großer Wahrscheinlichkeit die weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften angewiesen, Verfahren einzustellen oder zu verzögern. Staatsanwälte haben Strafvereitelung im Amt begangen. Im Fall U. haben Nichten des Pfarrers als Opfer ausgesagt, dann haben die Nichten die Anzeige unter Druck zurückgezogen. Und die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein! Als ob sexueller Missbrauch kein Offizialdelikt wäre, dem sie nachgehen müsste! Der Staat ist der Hauptschuldige, und das dauert. Er hat mir immerhin noch 20 Jahre zugestanden.

Werden Sie also auch staatliche oder kommunale Instanzen verklagen? Oder den Ex-Pfarrer?

In diesem konkreten Fall geht es wieder um Amtshaftung. Deshalb verklagen wir die Kirche, den Dienstgeber des Täters, aber man verklagt in so einem Fall nicht den unmittelbaren Täter. Bischöfe sehen wir als mittelbare Täter, manchmal auch als unmittelbare Täter, wenn sie von Delikten gewusst und die Urheber dann woanders hin versetzt haben. Aber verklagt wird das Bistum als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Und warum nicht auch den Rhein-Sieg-Kreis als Träger des Jugendamtes?

Ich versetze mich mal in die Lage der damaligen Mitarbeiter. U. hatte eine enorme Ausstrahlung. Herr Menne kennt ihn, vielleicht benennen wir ihn im F.-Prozess sogar als Zeugen. Wenn das Gericht ihm denn diesmal zuhört. Es gab ja Gerede über ihn in den Gemeinden, in denen er eingesetzt wurde, aber das wollte man nicht hören. Wenn man sich die Unterlagen ansieht, ist man ja beinahe gerührt. Das Erzbistum Köln machte sich Sorgen, ob U. seinen Aufgaben als Geistlicher würde nachkommen können, und stimmte dann wegen des Kindeswohls zu. Der Pfarrer sollte eine Haushälterin einstellen. Das geschah nicht und wurde nie kontrolliert.

Staatsanwälte haben Fehler gemacht, aber das Jugendamt nicht?

Wenn da der Kardinal Höffner kommt und sagt, wir kümmern uns um das Mädchen, das ja schon zuvor in einem kirchlichen Heim lebte – dann kann man dem Jugendamt keinen Vorwurf machen, dass es sich darauf verließ.

Die 20 Jahre, die Ihr Hausarzt Ihnen genehmigt hat, brauchen Sie aber wahrscheinlich auch wegen der schieren Zahl der Missbrauchsfälle…

Wir haben inzwischen circa 250 Opfer, die klagen wollen. Wir müssen pragmatisch vorgehen. Wir beginnen mit einfachen Fällen in dem Sinne, dass sie in Gutachten wie in Köln, in Aachen, in Hildesheim dokumentiert sind. Wo nichts mehr bewiesen werden muss, wo es um die Höhe geht. Diese Fälle nehmen wir jetzt an, um Druck auszuüben und die Bischöfe zu bewegen, sich mit den Opfern zu einigen, damit sie nicht vor die Gerichte gehen müssen.

Aber wenn Sie nur begutachtete Fälle vor Gericht bringen, sind Bistümer fein raus, die noch kein Gutachten vorgelegt haben. Und bei der evangelischen Kirche sind Fallstudien noch gar nicht in Sicht.

Wir beobachten die Lage bei den Protestanten, aber von evangelischer Seite ist bisher noch niemand an uns herangetreten.

Wenn die katholische Kirche die Opfer anständig entschädigen würde, wären das bundesweit 2,5 Milliarden Euro.

Erwarten Sie, dass die UAK zum Beispiel das Menne-Urteil zur Kenntnis nimmt und ihre Leistungen erhöht?

Sie zahlt inzwischen höhere Beträge. Im Bereich von 100 000, in Einzelfällen auch von 150 000 Euro. Aber das reicht bei weitem nicht. Denken Sie an Herrn Menne, der 320 mal anal vergewaltigt wurde. Das Schmerzensgeld hat viele Funktionen. Schon bei den ihm zugesprochenen 300 000 Euro hat das Landgericht Köln die Funktionen der Genugtuung und auch den Strafcharakter, den das Schmerzensgeld für den Zahlungspflichtigen hat, übersehen. Es muss höchste Schmerzensgelder geben. Nur das bringt die Kirche und andere Institutionen dazu, besser aufzupassen. Das Opfer muss das Gefühl haben, dieses Schmerzensgeld tut der Kirche weh. 100 000 Euro tun der Kirche nicht weh, 300 000 auch nicht. Es muss in die Millionen gehen.

Was käme denn insgesamt auf die katholische Kirche zu?

Wenn die katholische Kirche die Opfer anständig entschädigen würde, wären das bundesweit 2,5 Milliarden Euro. Die viel kleinere irische Kirche hat schon 1,5 Milliarden gezahlt – in Deutschland waren es über die UAK bisher 41 Millionen.

Das US-Erzbistum San Francisco hat sich für zahlungsunfähig erklärt. Kann das bei solchen Milliardensummen auch deutschen Bistümern passieren?

Die katholische Kirche ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann sie nicht insolvent gehen. 2,5 Milliarden sind nicht viel Geld. Die Alternative wäre, dass die Kirche nichts tut. Dann gibt es eine Austrittswelle. Dann kann der Küster nur noch den Kölner Dom zusperren. Ich habe doch nichts gegen die Kirche, im Gegenteil. Die Menschen brauchen etwas, woran sie sich festhalten können. Aber sie gehen, wenn die Kirche nicht reagiert. Darauf habe ich auch Bischof Dieser hingewiesen, genauso wie zuvor im Fall Menne den Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser. Und das habe ich dann schon gemerkt: Bischof Dieser ist sehr nachdenklich geworden. Ich bin gespannt, wie sich das Bistum Aachen jetzt gegenüber unseren Klagen verhält.