Köln – Der Rote Teppich sei nichts für ihn. Kurz vor dem Aufbruch zum Deutschen Fernsehpreis erklärte Günter Wallraff vor zwei Wochen am Telefon, dass er jetzt lieber noch einmal eine Schicht bei Thyssen schieben würde. Sein RTL-Reporter- „Team Wallraff“ war für den Preis nominiert.
Im Rampenlicht steht er nicht gern. Rummel dürfte ihm daher auch am Samstag ungelegen sein. Dann feiert der investigative Journalist und Schriftsteller seinen 80. Geburtstag. Seinen 50. verbrachte er mit Opfern des Brandanschlags von Rostock-Lichtenhagen, an seinem 60. stiftete er in Afghanistan eine Mädchenschule und zu seinem 75. zog es den Vater von fünf Töchtern ins Ausland.
Wallraff Kaperte im Sommer eine Rheininsel um Solidarität mit Schülern und Lehrern auszudrücken
Umtriebig ist der Langstreckenläufer und Tischtennisspieler – regelmäßig trifft er Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach an der Platte. Als Kanute kaperte er im Sommer die Rheininsel Nonnenwerth – aus Solidarität mit Schülern und Lehrern, deren Schule von einem Investor erst gekauft und dann geschlossen wurde.
In Burscheid im Bergischen Land geboren erlebte er bereits als Fünfjähriger, wie sein Vater an den Folgen seiner Arbeit in der Lackiererei bei Ford – der „Lackhölle“ so Wallraff – schwer erkrankte und elf Jahre später starb. Vorübergehend lebte der Junge im Waisenhaus und verließ nach der zehnten Klasse das Gymnasium, um eine Buchhändlerlehre zu machen, die er 1962 abschloss.
Diagnose „abnorme Persönlichkeit“ in der Zeit bei der Bundeswehr
Wallraff wollte den Kriegsdienst verweigern, wurde aber trotzdem zur Bundeswehr eingezogen. Sein friedlicher Protest gipfelte dort in der neurologischen Abteilung. Die Diagnose „abnorme Persönlichkeit“ und „untauglich für Krieg und Frieden“ – der Befund liegt heute im Museum – wurde mit seinem Interesse an pazifistischer Literatur und Veröffentlichungen in der „Zeitschrift für Lyrik“ begründet.
Bereits früh schrieb er Gedichte und schickte sie Heinrich Böll, mit dessen Neffen er befreundet, und mit dessen Nichte er in erster Ehe verheiratet war. Nachdem er Mitte der 1960er Jahre als Fabrikarbeiter Geld verdient hatte, erschien 1966 der erste Reportagenband „Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben“.
Das eigene Erleben ist Ansatz seines dokumentarischen Schreibens
1969 gründete Wallraff mit Erika Runge, Erasmus Schöfer und Peter Schütt den „Werkkreis 70“, später der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Das eigene Erleben wurde Ansatz seines dokumentarischen Schreibens. Als Türke Ali Sigirlioğlu machte Wallraff in den Duisburger Stahlwerken bei Thyssen Anfang der 1980er Jahre die Drecksarbeit, deckte die Verletzung von Arbeitsschutzregeln auf und erfuhr am eigenen Leib Ausländerfeindlichkeit.
Beim Kölner Versicherungskonzern Gerling schleuste er sich als Portier und Bote ein. Dabei nahm er wieder undercover die Rolle als Arbeiter an, während sein Mitautor Bernt Engelmann die Ansichten und Lebensgewohnheiten von Industriellen erforschte. Auch der 1973 erschienene Titel „Ihr da oben – wir da unten“ wurde gleich ein Bestseller.
Auch bei der „Bild“ war Wallraff schon undercover
„Mit seinen Enthüllungen hat Wallraff Mediengeschichte geschrieben – und Maßstäbe gesetzt in Sachen Investigation, Furchtlosigkeit und Durchhaltevermögen“, schrieb Georg Restle, Leiter des Politmagazins „Monitor“ über den Investigativjournalisten.
Zu Wallraffs 80. Geburtstag erscheinen nun die Bestseller „Ganz unten“ und „Der Aufmacher“ – das war Günter Wallrafs alias Hans Essers Einblick in den Redaktionsalltag bei Bild – in Neuauflage. Beide Bücher waren enorm erfolgreich und zeigten durchschlagende politische und gesellschaftliche Wirkung, gaben vielen Lesern den Anstoß, sich sozial oder politisch zu engagieren.
1974 in Griechenland zu einem Jahr Einzelhaft verurteilt
So wie er: Wallraffs Haus in Ehrenfeld wurde zum Exil unter anderem für Salman Rushdie und Wolf Biermann. Der Günter-Wallraff-Preis ging im vergangenen Mai an Wikileaks-Gründer Julian Assange. Mit der Enthüllung von geheimem Bild- und Textmaterial zu möglichen Kriegsverbrechen der USA habe Assange einen bedeutenden Beitrag zur Nachrichtenaufklärung geleistet, so die Jury.
Gefährliches Pflaster scheute Wallraff nie. Als er im Mai 1974 in Athen Flugblätter verteilte, welche das Terrorregime der griechischen Militärdiktatur entlarvten, wurde er von der Geheimpolizei misshandelt und im Hauptquartier der Sicherheitspolizei solange gefoltert, bis er seine Identität offenlegte. Man verhaftete ihn zu über einem Jahr Einzelhaft. Als die Diktatur im August zusammenbrach, kamen alle politischen Häftlinge, darunter auch Wallraff, frei.
Erleben, Niederschreiben, Veröffentlichen sind die Eckpfeiler des von ihm geprägten „Dokumentarischen Schreibens“. Auch als Obdachloser war er unterwegs, und dass zahlreiche seiner Aktionen von Prozessen und Kampagnen begleitet waren, schreckte ihn nicht wirklich ab. Der Rollenwechsel, erklärte der Autor einmal, begleite ihn „bis in meine Träume“. Schweden setzte ihm Mitte der 1970er Jahre ein sprachliches Denkmal – dort sprechen die Journalisten bei der investigativen Recherche vom „wallraffen“.
Auf der lit.Cologne spricht Günter Wallraff am 9. Oktober, 17 Uhr, im Funkhaus mit Moderator Georg Restle und Autorin Melyk Kiyak über investigativen Journalismus.