StilkolumneWie rede ich jemanden an, wenn ich das Geschlecht nicht kenne?
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Stil und gutes Benehmen, das klingt schnell altmodisch. Doch Orientierung im richtigen Umgang mit unseren Mitmenschen suchen viele.
In unserer Stilkolumne „Wie geht's?” beantworten Experten genau diese Fragen – von der angemessenen Kleidung bis zur richtigen Wortwahl.
Diesmal erklärt Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, wie eine stil- und respektvolle Anrede gelingt, wenn das Geschlecht des Anderen nicht sofort ersichtlich ist.
Köln – In einer Kolumne haben Sie geschrieben, dass man Briefe am besten mit der Formel „Sehr geehrte(r)…“ beginnt. Nun folgen dort, wo Sie die drei Pünktchen gesetzt haben, ja die Wörter „Herr“ oder „Frau“, je nachdem, ob man es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Was aber ist, wenn ich das am Vornamen nicht erkennen kann? Außerdem gibt es neuerdings neben dem „m“ und dem „w“ ja auch das „d“ für „divers“, also das dritte Geschlecht. Wie lautet in diesem Fall die korrekte Anrede?
Lassen Sie mich mit der zweiten Frage beginnen. Die hat zunächst weniger mit „Political Correctness“ zu tun, sondern mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Diese fordert „für Personen, deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich deswegen dauerhaft weder dem männlichen, noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen“, einen dritten Geschlechtseintrag. Die Forderung des Gerichts ist mit dem „d“ für „divers“ umgesetzt worden und stellt uns nun unter anderem vor die von Ihnen genannte sprachliche Aufgabe – bzw. vor zwei Aufgaben. Erstens: Was schreiben wir anstelle von „Herr“ oder „Frau“? Und zweitens: Wie gehen wir mit dem grammatischen Geschlecht des Adjektivs „geehrt“ um?
Vielleicht werden in Zukunft neben „Herr“ und „Frau“ weitere Anredeformen entstehen, aber bislang kommen Ausdrücke wie „Sehr geehrte Person Müller“ oder gar „Sehr geehrtes Diverses Müller“ nur als Witzelei mittelmäßiger Kolumnisten vor. Wenn wir respektvoll und im Rahmen des üblichen Sprachgebrauchs bleiben wollen, lösen wir das Problem der Anredeform deshalb am besten, indem wir diesen Teil der Anrede durch den Vornamen ersetzen. Wir wenden uns an die „sehr geehrte Anna Müller“ statt an „Frau Müller“.
Die zweite Aufgabe, der Umgang mit dem Adjektiv „geehrt“, ist etwas komplizierter zu erfüllen. In den vergangenen Jahren hat sich das Gendersternchen etabliert, wenn es darum geht, weitere Geschlechter neben dem männlichen und dem weiblichen zu erfassen. Wir können also schreiben „Sehr geehrte*r Eike Müller“. Allerdings ist das Gendersternchen im Schriftbild vielen nicht ganz geheuer, und es entspricht auch (noch) nicht der amtlichen Rechtschreibung. Wer es meiden will, kann deshalb das „Sehr geehrte(r)…“ ganz weglassen. Für diesen Fall gibt es ja auch traditionell schon die Lösung, eine allgemeine Grußformel zu verwenden, etwa „Guten Tag, Eike Müller“.
Damit würden wir uns an die Vorschläge der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und des Vereins Intersexuelle Menschen e.V. halten. Diese Form der Anrede ist aber auch für Gruppen geeignet, die zwar vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht betroffen sind, die sich aber trotzdem nicht als Mann oder Frau einordnen können oder wollen – zum Beispiel Menschen mit sogenannten nicht-binären Geschlechtsidentitäten.
„Wie geht’s?“
In unserer Kolumne beantworten vier Experten abwechselnd in der Zeitung Ihre Fragen zum stilsicheren Auftreten in allen Lebenslagen. Ingeborg Arians, Protokollchefin der Stadt Köln a.D., weiß, wie man sich bei offiziellen Anlässen richtig verhält. Journalistin Eva Reik kennt sich bestens aus mit Mode und der passenden Kleidung zu jeder Gelegenheit. Vincent Moissonnier, Chef des gleichnamigen Kölner Restaurants, hat die perfekten Tipps zu Tischmanieren ohne Etepetete. Und Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft, sagt, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren. (jf)
Um auf Ihre erste Frage zu kommen: Diese Lösung passt auch dort, wo wir aufgrund eines uns nicht vertrauten oder doppeldeutigen Vornamens nicht wissen, ob wir es mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben. Ja, wir könnten sogar noch einen Schritt weiter gehen und diese Form der Anrede auch dort verwenden, wo wir es wissen. Denn eigentlich ist es ja auch ohne einen dritten Geschlechtseintrag oder nicht-binäre Geschlechtsidentitäten merkwürdig, dass wir Menschen ständig mit ihrem Geschlecht anreden – wir erwähnen in der Anrede schließlich auch nicht das Alter, den Wohnort, die Einkommensklasse oder andere demografische Daten unseres Gegenübers.