Die beiden Politiker aus dem Münsterland machen schon lange parallel Karriere. Doch inzwischen stehen sie für unterschiedliche Politik.
Porträt von Wüst und SpahnZwei Männer mit verschiedenen CDU-Zukunftsvisionen

Ungleiches Duo mit langer gemeinsamer Geschichte: Jens Spahn (l.) und Hendrik Wüst
Copyright: picture alliance/dpa
Als Hendrik Wüst neulich in einem Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags als Zeuge aussagen musste, schreckte ihn mitten in seinen Ausführungen scheppernder Krach hoch. Im Rücken des Ministerpräsidenten war ein Mitarbeiter der AfD-Fraktion bewusstlos geworden und mit dem Kopf auf dem Geschirrtisch des Sitzungscaterings aufgeschlagen.
Wüsts Personenschützer schalteten sofort in Alarmmodus. Medizinische Ersthelfer beugten sich über den Verunglückten. Der Ausschussvorsitzende ließ den Notarzt alarmieren. Abgeordnete und Journalisten guckten betreten zu Boden. Bleierne Stille. Nur Wüst selbst stand auf, ging die vier Schritte zum Unfallort und bot wortlos sein Wasserglas an.
Wüst und Spahn arbeiteten schon im Münsterland zusammen
Wahnsinn, dachte man in dem Moment, diese Geistesgegenwart. Dieser Sinn für Gesten selbst unter Stress. Höflichkeit auch in Grenzsituationen. Dreieinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident hat der bald 50-Jährige die Rolle als fürsorglicher Landesvater derart verinnerlicht, dass selbst ein kaum ansprechbarer Mitarbeiter einer „Nazi-Partei“, wie Wüst die AfD seit 2023 konsequent nennt, seiner Zuwendung sicher sein kann.
Alles zum Thema Hendrik Wüst
- Wasserstoff und KI Werbetour für Investitionen – NRW-Delegation bereist Katar
- „Social Card“ wird zum Flop Bezahlkarte für Geflüchtete wird zum Ladenhüter
- Benefizkonzert des Bundespräsidenten WDR-Sinfonieorchester spielt für einen guten Zweck
- Debatte des Tages Was bedeutet der Koalitionsvertrag für NRW?
- Spekulationen Macht Trump die US-Vertretung in NRW dicht?
- Tag der Arbeit Zentrale Kundgebung für NRW findet am 1. Mai in Siegburg statt
- „Heimat im Blick“ Ministerpräsident Wüst spricht beim Rundschau-Empfang zum Wechsel der Chefredaktion
So ungefähr scheint sich Wüst auch seine CDU zu wünschen: Hart und klar in der Abgrenzung zur AfD, breit und mittig diesseits der Brandmauer, aber eben auch menschlich anständig im Umgang mit den allzu oft Unanständigen. Eine Normalisierung der in Teilen rechtsextremen AfD, der neuerdings ein gewisser Jens Spahn das Wort redet, dürfte Wüst ein Graus sein. Nur ist er klug und professionell genug, die toxische Debatte über die Behandlung der AfD als „ganz normale Oppositionspartei“ nicht mit eigenen Einlassungen zu verlängern.
Ausgerechnet Spahn. Wüst und den ehemaligen Gesundheitsminister, der aktuell für die Schlüsselstellung als Fraktionschef von CDU/CSU im Bundestag gehandelt wird, verbindet eine lange Geschichte. Sie gehören der sogenannten „Borken-Connection“ der frühen 2000er Jahre an, einer Ansammlung konservativer Nachwuchspolitiker, die sich die Pfründe im erfolgsverwöhnten münsterländischen CDU-Kreisverband aufgeteilt hatten.

Ministerpräsident Wüst unterhält gute Verbindungen zu Ex-Kanzlerin Merkel. Hier überreicht er ihr den Staatspreis des Landes NRW. (Archiv)
Copyright: AFP
Zum Jahreswechsel 2003/04 sollen sich der junge Bundestagsabgeordnete Spahn und der damalige Junge-Union-Landeschef Wüst bei einem sagenumwobenen Geheimtreffen in der Borkener Gaststätte „Sicking“ verständigt haben, einander politisch nicht in die Quere zu kommen. Der eine sollte in Berlin Karriere machen, der andere in Düsseldorf.
Das klappte ziemlich gut. Konservativ, wendig, machtbewusst, provokativ – lange verfolgten beide ein ähnliches Geschäftsmodell, ohne sich ins Gehege zu kommen. Gelegentlich deckten sich sogar die Interessen. Etwa 2020, als Spahn „Tandem-Partner“ des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet wurde und diesem half, CDU-Bundesvorsitzender zu werden. Nur durch dessen Wechsel in die Bundespolitik mitten in der NRW-Legislaturperiode bekam der CDU-intern lange unbeliebte Wüst überhaupt die Chance, in die Düsseldorfer Staatskanzlei einzuziehen.
Wüst lässt Merkel in NRW beklatschen
Seit geraumer Zeit kreuzen sich jedoch die Wege. Im vergangenen Sommer löste Präsidiumsmitglied Spahn im CDU-Bezirksvorsitz Münsterland Wüsts populären Sozialminister Karl-Josef Laumann als Vorsitzender ab. Er gehört mithin zur Runde der einflussreichen „Teppichhändler“, die zentrale Personalfragen im NRW-Landesverband klären. Außerdem gilt Spahn ebenso wie Wüst als Führungsreserve der Bundes-CDU für die Zeit nach einem Kanzler Merz.
Wichtiger als solche Kronprinzen-Spekulationen, denen ohnehin meist die Realität dazwischenfunkt, erscheint eine inhaltliche Entfremdung. Während Spahn inzwischen verlässlich den konservativen Hardliner gibt, hat sich Wüst seit 2022 immer wieder als Projektionsfläche einer liberalen, schwarz-grün gewandeten Merkel-CDU neu erfunden.
Er verlieh zunächst der Altkanzlerin und Merz-Erzrivalin vor zwei Jahren den Staatspreis NRW. Zuletzt im Januar ließ er Merkel noch einmal als Stargast des CDU-Neujahrsempfangs in Düsseldorf beklatschen. In einem vielbeachteten Gastbeitrag in der FAZ hat sich Wüst außerdem im Sommer 2023 von einem allzu konservativen Kurs distanziert und stattdessen den „Herzschlag der Mitte“ eingefordert.
Wüst: „Die Leute sind ja nicht blöd“
Für einen, der eigentlich nicht als großer Rhetoriker gilt und die politische Rede eher als Einwegartikel begreift („nach Gebrauch bitte entsorgen“), hatte das schon fast Manifest-Charakter. Und als die Republik zu Jahresbeginn Kopf stand, weil die Union im Bundestag gemeinsam mit der AfD für eine härtere Migrationspolitik gestimmt hatte, ließ Wüst seine grüne Vize-Ministerpräsidentin Mona Neubaur erklären: „Grundsätzlich gilt für diese Landesregierung: Mit Rechtsextremen macht man keine gemeinsame Sache.“
Den mit 28,5 Prozent dürftigen Bundestagswahlsieg und den abrupten Positionswechsel der Union im Umgang mit der Schuldenbremse räumte kein CDU-Spitzenpolitiker so umstandslos ein wie Wüst. „Es ist eine andere Position, als man vorher gesagt hat“, formulierte er im März in der Talksendung „Maischberger“ und mahnte seine Partei zur Aufrichtigkeit. Da „sollte man den Leuten auch kein X für ein U vormachen – die Leute sind ja nicht blöd“.
Da Wüst einen eher strategischen als emotionalen Zugang zur Politik hat, schien seine Profilierung als weltoffen-freundlicher Regierungschef für jeden und alle vor allem auf einem simplen Kalkül zu beruhen: Rücksicht auf den grünen Koalitionspartner, traditioneller Konsensgeist im bevölkerungsreichen Einwanderungsland NRW, Harmoniebedürfnis der breiten Mitte. Inzwischen scheint bei Wüst aber echte Überzeugung nachgewachsen zu sein, dass jede sprachliche, stilistische oder thematische Annäherung an die AfD den Untergang der Union bedeuten würde.