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Rundschau-Debatte des TagesMüssen wir bald mehr Geld an die Krankenkasse zahlen?

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Symbolbild Krankenversicherung

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Berlin – Die Krankenkassen schlagen Alarm. Bei einem Seminar im brandenburgischen Kremmen platzte der Vorstandschefin des Spitzenverbandes der gesetzlichen Kassen (GKV), Doris Pfeiffer, gestern der Kragen: „Es muss eine Lösung geben, sonst läuft das voll in die Beitragserhöhung.“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) muss nun das Loch stopfen.

Was hat der Kassensturz erbracht?

Ohne Gegensteuern würden den Gesetzlichen Kassen 2023 insgesamt 17 Milliarden Euro fehlen. Schon im vergangenen Herbst drohte für 2022 eine gravierende Schieflage. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schoss quasi in letzter Minute 14 Milliarden Euro vom Bund nach, zudem mussten Reserven angezapft werden.

Vier Stellschrauben

Die Zeit wird knapp: Um das Loch im kommenden Jahr zu stopfen, ist es für eine Reform, die eine effizientere Gesundheitsversorgung bringt, zu spät. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sprach schon im März im Gespräch mit unserer Redaktion von „vier Stellschrauben“, an denen zu drehen sei: „Effizienzreserven im Gesundheitssystem heben, Reserven bei den Krankenkassen nutzen, zusätzliche Bundeszuschüsse gewähren, und die Beiträge anheben.“

Seitdem ist allerdings nichts geschehen. Einen Gesetzentwurf, in dem angeblich eine Beitragssatzerhöhung um 0,3 Prozentpunkte vorgesehen war, soll das Kanzleramt gestoppt haben. Fast im Wochentakt folgten Ankündigungen. Kommt Lauterbachs Entwurf noch vor der Sommerpause, dürften die Pläne von den Lobbyverbänden zerlegt werden. Liefert er nach der Pause, könnte die Finanzreform in den Strudel einer neuen Corona-Welle geraten. Wenn es schlecht läuft, wird eine Notoperation fällig, und die Gesundung der Finanzen wird auf die lange Bank geschoben. (tob)

Zwar ist ein fixer Beitrag aus dem Bundeshaushalt von jährlich 14,5 Milliarden Euro vereinbart. Hinzu kommen die Beiträge der Versicherten von 14,6 Prozent plus durchschnittlich 1,36 Prozent Zusatzbeitrag. Aber schon seit 2018 schrumpfen die Kassenvermögen zusammen. Im vergangenen Jahr betrugen sie noch 11 Milliarden Euro, das war weniger als die Hälfte der monatlichen Ausgaben von 23,7 Milliarden Euro.

Woher kommt das Minus?

Corona spielt nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Sonderausgaben etwa für die Krankenhäuser erstatte der Bund, hier wurden die Kassen geschont. Allerdings hatte Spahn in den ersten Jahren seiner Amtszeit zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht, dazu zählen auch höhere Gehälter für das Pflegepersonal. Kostenpunkt laut GKV: Rund fünf Milliarden Euro pro Jahr. Neben steigenden Behandlungskosten reißen vor allem die Ausgaben für neue Medikamente größere Löcher ins Kassenbudget. 2021 stieg der Posten allein um 7,78 Prozent. Für 2023 geht der GKV von Mehrkosten in der Arzneimittelversorgung von drei Milliarden Euro aus, Tendenz steigend.

Wie müsste der Beitrag aussehen?

Um die Milliardenlücke zu schließen, müssten die Beiträge der Versicherten um 1 bis 1,1 Prozentpunkte angehoben werden, wie der Spitzenverband vorrechnet. Der gesetzlich festgelegte Satz müsste also von 14,6 Prozent auf mindestens 15,6 Prozent steigen. Bei einem sozialversicherungspflichtigen Einkommen von 4000 Euro würden 40 Euro zusätzlich fällig, je zu Hälfte für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, und das in einer Zeit der galoppierenden Inflation. „Es muss eine Lösung geben, sonst läuft das voll in die Beitragssatzerhöhung“, forderte GKV-Chefin Pfeiffer an die Adresse von Karl Lauterbach.

Wie könnte die Lösung aussehen?

Es gibt mehrere Stellschrauben. So gilt für Arzneimittel anders als für Schnittblumen der normale Mehrwertsteuersatz. Würden die Steuern für Pillen, Spritzen und Infusionen auf sieben Prozent gesenkt, könnten die Kassen sechs Milliarden Euro sparen. Das Loch würde dann aber im Budget von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) entstehen, weshalb seine Begeisterung gering ist.

Zur Forderung des GKV gehört auch eine „Dynamisierung“ des fixen Bundeszuschusses von 14,5 Milliarden Euro. Der soll die sogenannten versicherungsfremden Leistungen decken, etwa bei Schwangerschaft oder Mutterschaft. Weil auch das aber immer teurer wird, sei der Bundeszuschuss „schleichend entwertet“ worden.

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Beim dicksten Brocken geht es um die Kassenbeiträge von Arbeitslosen. Die übernimmt zwar der Staat, allerdings in viel zu geringem Umfang. Was etwa für Langzeitarbeitslose an Beiträgen überwiesen werde, sei „um zwei Drittel zu niedrig“. Der GKV spricht von zehn Milliarden Euro, mit denen die Kassen den Staatshaushalt Jahr pro Jahr subventionierten.

Der „Problem-Minister“ bei diesem Baustein ist Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD), auf dessen Budget die Hartz-IV-Leistungen zurückfallen. Bei Heil halte sich die Verhandlungsbereitschaft, die Lasten von den Krankenkassen auf die Arbeitslosenversicherung zu verschieben, gerade „sehr“ in Grenzen, heißt es in Kremmen. Dabei steht das Vorhaben im Koalitionsvertrag. Aber es geht eben um einen gewaltigen Verschiebebahnhof.

Was ist mit Leistungskürzungen?

Das wiederum ist für Gesundheitsminister Lauterbach ein rotes Tuch. Die Versorgung zurückfahren, um Kosten zu sparen, sei mit ihm nicht zu haben, sagte er mehrfach. Dabei sehen die Kassen Potenzial: Die Preise für neue Arzneimittel seien viel zu hoch, es gebe eine deutliche Überversorgung bei den Krankenhäusern, und auch die „deutliche Steigerung der Arzthonorare“ sei wohl kaum „im Sinne der Versicherten“, gibt Doris Pfeiffer zu bedenken. „Wir müssen die Ausgabenseite in den Blick nehmen.“