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BGH-Entscheidung zu PflegeversicherungKinderreiche Familien müssen entlastet werden

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Karlsruhe – Eltern mit mehreren Kindern müssen nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weniger für die gesetzliche Pflegeversicherung zahlen als kleinere Familien und Kinderlose. Bei der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung hingegen muss nach Angaben des höchsten deutschen Gerichts vom Mittwoch überhaupt nicht unterschieden werden zwischen Menschen mit und ohne Nachwuchs (1 BvL 3/18 u.a.). Familienverbände wollen nun auf politischem Weg für ihr Anliegen kämpfen.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter ordneten an, dass die Beitragssätze in der Pflegeversicherung bis Ende Juli 2023 entsprechend der konkreten Zahl der Kinder angepasst werden müssen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigte an, die Entscheidung in der vorgegebenen Frist umzusetzen. „Die Pflegeversicherung muss aber auch grundsätzlich solider finanziert werden. Auch das werden wir angehen“, sagte er.

„Nachteil" schon ab zweitem Kind

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Fall der Pflegeversicherung schon 2001 geurteilt, es sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Eltern einen genauso hohen Beitragssatz zahlen wie Kinderlose – denn sie leisteten einen „generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems“. Die Beitragssätze wurden daraufhin angepasst. Seit Anfang dieses Jahres liegt der Satz für Eltern bei 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens, der für Kinderlose dagegen bei 3,4 Prozent.

Nach Ansicht der Richterinnen und Richter greift das aber zu kurz: Je mehr Kinder eine Familie habe, desto größer seien der Aufwand und die damit verbundenen Kosten. „Diese Benachteiligung tritt bereits ab einschließlich dem zweiten Kind ein“, heißt es in der Mitteilung. „Die gleiche Beitragsbelastung der Eltern unabhängig von der Zahl ihrer Kinder ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.“ Der Gesetzgeber müsse diese Benachteiligung deshalb beheben.

Da muss mehr kommen – Uwe Westdörp zur Entscheidung des Verfassungsgerichts

Nein, dieses Urteil ist kein Durchbruch für Familien mit mehreren Kindern, aber es schafft ein kleines bisschen mehr Gerechtigkeit. Die Entscheidung, Mütter und Väter ab dem zweiten Kind bei den Pflegebeiträgen besser zu stellen als Kinderlose und Kleinfamilien, war überfällig. Denn natürlich macht es finanziell einen gewaltigen Unterschied, ob man ein Kind großzieht oder zwei oder drei oder vier.

Im Grunde genommen hätte das Verfassungsgericht diese Abstufung schon vor 20 Jahren vornehmen können. 2001 entschied es, Kinderlose müssten mehr zahlen als Eltern, weil Familien einen zentralen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungen leisten. Mit anderen Worten: Sie sorgen für die Beitragszahler, ohne die es nicht geht. Jetzt nimmt das Gericht diesen Faden endlich wieder auf und vervollständigt seine Rechtsprechung.

Die Politik sollte nun mehr tun als nur an den Pflegebeiträgen herumzuschrauben. Denn die strukturelle Benachteiligung von Familien ist immens. Sie haben nicht nur hohe Extraausgaben, sondern oft auch geringere Einkommen, weil ein Elternteil auf Erwerbstätigkeit verzichtet. Am besten, das Dickicht der Familienleistungen wird gründlich gelichtet und es gibt stattdessen endlich eine Kindergrundsicherung. Die Ampel-Koalition steht im Wort. Jetzt muss sie liefern.

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In der gesetzlichen Rentenversicherung allerdings werde der Wert der Kindererziehung insbesondere durch die Anerkennung sogenannter Kindererziehungszeiten honoriert, entschied der Erste Senat unter Vorsitz von Gerichtspräsident Stephan Harbarth. Mit Blick auf die gesetzliche Krankenversicherung betonten die Richterinnen und Richter, dass die Versicherten hier schon in Kindheit und Jugend „in erheblichem Umfang“ von den Leistungen profitierten.

Dass in diesen beiden Fällen keine Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Kindern gemacht werden, hatte schon das Bundessozialgericht in mehreren Urteilen für rechtens erklärt. Gegen diese Entscheidungen wehrten sich mehrere Eltern mit Verfassungsbeschwerden, unterstützt vom Familienbund der Katholiken in der Erzdiözese Freiburg.

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Stephan Schwär, einer der Kläger, reagierte „restlos enttäuscht“ auf das Urteil. „2001 hat Karlsruhe selbst gesagt, Familien müssten während der Erziehungszeiten der Kinder bei Renten- und Krankenkassenbeiträgen entlastet werden. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede“, sagte Schwär. „Auch die Gutachten unserer Sachverständigen wurden komplett ignoriert.“

Juristisch hätten die klagenden Familien alle Möglichkeiten erschöpft, so Schwär. „Jetzt liegt es an den Familienverbänden, die uns unterstützt haben, die Debatte weiter zu führen.“ Der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken (FDK) kündigten bereits an, den Kampf für eine finanzielle Besserstellung von Familien auf die politische Ebene zu verlagern. (dpa/mit kna)