AboAbonnieren

Missbrauch im Erzbistum KölnMünchner Kanzlei lieferte unvollständiges Gutachten

Lesezeit 6 Minuten
Kardinal Woelki fasst sich an die Nase

Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln

Köln – Wenn das Erzbistum Köln sein Mandatsverhältnis mit der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht beendet hätte, dann wäre Weihbischof Ansgar Puff vermutlich noch im Dienst. Denn jenen Pflichtverstoß, den Puff als Personalchef im Jahr 2013 begangen haben soll, hatte das Team um den Münchner Anwalt Ulrich Wastl gar nicht thematisiert. Erst der neue Gutachter Björn Gercke, den das Erzbistum nach der spektakulären Trennung von WSW beauftragte, griff den Fall als „Aktenvorgang 6“ auf.

Wie funktioniert die Einsichtnahme?

Das Erzbistum gibt das WSW-Gutachten wegen rechtlicher Bedenken nicht heraus, gestattet aber die Einsichtnahme (im Kölner Maternushaus. Ganze 90 Minuten für die Lektüre von 356 Seiten plus 155 Seiten Anhang zur Verfügung.

Die Gutachter

Björn Gercke ist Partner der auf Strafrecht spezialisierten Kölnder Kanzlei Gercke Wollschläger und Honororarprofessor der Universität Köln. Vergangene Woche stellte er sein Gutachten für das Erzbistum Köln vor.

Ulrich Wastl hat mit seiner Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) für das Erzbistum München-Freising und das Bistum Aachen Gutachten zu Missbrauchsfällen verfasst. Das Erzbistum Köln beauftragte WSW 2018 und kündigte 2020.

Zwei Aufsichtspersonen sitzen im Leseraum. Mobilgeräte sind abzugeben. Mitgenommen werden dürfen nur ein kleiner Block und ein Kuli – kein Schnellhefter, denn da könnte man dem Aktenordner heimlich Seiten entnehmen. Die Rundschau konnte den WSW-Text unter diesen Voraussetzungen nur stichprobenartig durchsehen.

Welchen Auftrag hatten die Gutachter?

Der Auftrag an die Münchner Kanzlei und dann an Gercke war identisch und wird in beiden Gutachten zitiert. Beide Kanzleien sollten anhand der Akten des Erzbistums prüfen, ob der Umgang mit Missbrauchsfälle staatlichen und kirchlichen Rechtsnormen sowie dem kirchlichen Selbstverständnis entsprach. Es ging also nicht um ein Wiederaufrollen der Fälle selbst.

Beide Kanzleien haben Verantwortliche befragt. Die Münchner gingen weiter als später der Kölner Anwalt Björn Gercke. Sie fragten auch Mitarbeiter des Generalvikariats unterhalb der obersten Führungsebene sowie ehemalige erzbischöfliche Kapläne. Allerdings brachte auch dies, soweit bei der Kurzlektüre erkennbar, nicht den in der Öffentlichkeit erhofften Aufschluss über das, was in den Akten fehlt.

Welche Fälle hat WSW aufgegriffen?

Die Münchner Anwaltskanzlei hat 15 Fälle exemplarisch herausgegriffen. Gercke und seine Kollegen gehen anders vor: Alle 236 auffindbaren Aktenvorgänge werden dargestellt. In 24 Vorgängen sehen sie nachweisbare Pflichtverstöße und beleuchten sie näher. Der emeritierte Juraprofessor Heinz Schöch hat im Auftrag des Erzbistums nachgezählt: Nur elf davon stehen auch im Wastl-Gutachten. So fehlt ja auch Vorgang 6, der Fall eines mutmaßlich sexuell missbrauchten ehemaligen Internatsschülers, der sich zwar nicht äußern wollte, was den Personalchef Puff aber nicht von seiner Aufklärungspflicht entband. Wastl erklärte dazu gegenüber der Rundschau, das Verhalten des auch bei Gercke nicht namentlich genannten Puff sei „zwar als pflichtwidrig zu bewerten, erfüllt jedoch nicht die Anforderungen, die wir an eine öffentliche Darstellung gestellt haben; zumal eine Anonymisierung – wie die weitere Entwicklung belegt – im Ergebnis nicht möglich ist“.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wegen seiner einstigen Rolle als Personalchef belastet wird bei Wastl der spätere Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Bei ihm vermissen die Autoren nachträgliche Einsicht, anders als beim früheren Generalvikar und späteren Weihbischof Dominik Schwaderlapp. Eine bei Gercke belastete frühere Justitiarin bleibt bei WSW ungeschoren.

24 minus elf macht 13: Mehr als die Hälfte der Gercke-Fälle wird bei Wastl nicht aufgegriffen. Andererseits sieht Gercke in vier der 15 Wastl-Beispielen keine Pflichtverstöße. Aber auch sie sind bei ihm dokumentiert.

Der Fall des Düsseldorfer Pfarrers O. (Gercke Nr. 5), dem Erzbischof Joachim Kardinal Meisner 2011 nicht nachgegangen war und den Nachfolger Rainer Maria Kardinal Woelki 2015 wegen Vernehmungsunfähigkeit des Beschuldigten nicht nach Rom meldete, fehlt unter den 15 WSW-Beispielen – weil er, so Wastl, wegen seiner besonderen Umstände „ebenfalls nicht die Anforderungen“ erfülle, „die wir an eine öffentliche Darstellung gestellt haben“. Woelki wird in beiden Gutachten nicht belastet, Wastl hält sein Verhalten aber für pflichtwidrig.

Nur bei Gercke steht übrigens der Fall des in seiner Jugend sexuell missbrauchten Priesters Michael Schenk aus Waldbröl (Nr. 223), allerdings ohne Beanstandung Das Meisner Schenk, wie dieser sagt, in Gesprächen jede Hilfe verweigert habe, steht eben nicht in den Akten.

Wie analysiert die Kanzlei WSW die Fälle?

Markant ist der WSW-Beispielfall 14, bei Gercke Nr. 119. Was war geschehen? Ein Priester war wegen sexuellen Missbrauchs per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden und hatte das dem Erzbistum zunächst verschwiegen, dann zugegeben. Der Fall wurde der Glaubenskongregation gemeldet, der Mann wurde zunächst vom Kölner Diözesangericht bestraft und dann in zweiter Instanz in Münster freigesprochen. Ein aussagepsychologisches Gutachten hatte die Aussage der betroffenen jungen Frau in Zweifel gezogen – was allerdings nur bei Gercke erwähnt wird. Während Gercke keinen Pflichtverstoß auf Kölner Seite sieht, greift WSW den Kölner Offizial Günter Assenmacher an. Der habe sich erfreut über den Freispruch gezeigt.Das sei mit seiner Stellung nicht vereinbar. Ist das nun ein Pflichtverstoß?

Anwalt Wastl hat seinem Gutachten zwar umfassende Überlegungen zur Rechtslage beigegeben. Bei den Fällen finden sich oft allgemeine Formulierungen wie „die Gutachter halten dies … für eine gravierende Pflichtverletzung“ – während Gercke seine Vorwürfe akribisch nach jeweils verletzter Pflicht sortiert. Dafür bezweifeln die WSW-Gutachter Heßes Führungsqualitäten. Ein Amtsträger habe „täterfreundlich“ agiert. Einer der Angegriffenen nennt die Attacken in einer beigefügten Stellungnahme ehrenrührig.

Wie steht es um die Pflicht zum Vorbeugen?

Besonders scharf werden die Wertungen der Münchner Kanzlei da, wo es um die Pflicht der Kirche geht, mögliche künftige Taten zu verhindern. Unter Inkaufnahme von Opfern habe Joseph Kardinal Höffner agiert, Meisner seien schwere Übergriffe verantwortlich anzurechnen.

Gercke sieht nur in einem einzigen, von den Münchner Kollegen gar nicht aufgegriffenen Fall einen Verstoß gegen eine Verhinderungspflicht (Aktenvorgang 2 – Meisner hatte Auflagen für einen Täter nicht durchgesetzt). Im WSW-Gutachten zählt Schöch 19 derartige Vorwürfe. Unter anderem geht um Geistliche, denen Wiederholungstaten vorgeworfen wurden wie dem Kinderbuchautor F. oder dem durch drei Diözesen hin- und herversetzten Pfarrer A.

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller meint, Gercke sei jedenfalls im Fall A. tatsächlich wohl zu vorsichtig mit seinen Wertungen gewesen. Erzbischof Joseph Kardinal Höffner und seinen Generalvikar Norbert Feldhoff hätten hier einen ein „rechtlich (!) und faktisch bewiesener Verstoß“ gegen die Verhinderungspflicht begangen – was zu unterscheiden sei von der Strafvereitelung im Amt nach staatlichem Recht.

Wastl selbst erklärt, hinsichtlich einer solchen Pflicht habe man sich „nicht ausschließlich an den rein strafrechtlichen Garantenpflichten orientiert, sondern haben die der Kirche gegenüber ihren Gläubigen bestehende umfassende Fürsorgepflicht als maßgeblich angesehen; dies nicht zuletzt mit Blick auf die erhebliche Vertrauensstellung der Kleriker.“

Termine zur Einsichtnahme können unter www.erzbistum-koeln.de vereinbart werden.