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Landtagswahl in NRWHendrik Wüst und Thomas Kutschaty im Endspurt

Lesezeit 7 Minuten
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Die Wahl in NRW steht kurz bevor und wird voraussichtlich zwischen Hendrik Wüst (CDU) und Thomas Kutschaty (SPD) ausgetragen werden.

Hendrik Wüst war mal ein kantiger Konservativer, gibt sich heute aber flexibel in seinen Ansichten. Thomas Kutschaty ist kein Draufgänger, unterschätzen darf man ihn aber nicht. Einer von beiden wird am Sonntag die Landtagswahl gewinnen.

Hendrik Wüst: Ein Mann für jede Tonart

Als Hendrik Wüst noch NRW-Verkehrsminister war, traf man ihn mittags schon mal in der Landtagskantine. Er konnte in solchen Momenten auf Abstand zu sich selbst gehen und erstaunlich abgeklärt, bisweilen witzig über die Absurditäten des Politikbetriebs, die Mechanismen der Macht und das eigene Tun sprechen. War der Teller leer, wünschte er „schönen Tach noch“ und kehrte zurück in seine Rolle.

Wer Wüst bei solchen Gelegenheiten zuhörte, bekam eine Ahnung davon, dass dieser Mann die Regeln seines Metiers besser verstanden hat als andere. Der heutige Ministerpräsident hat alles von klein auf verinnerlicht: Mit 15 Junge Union, mit 19 Stadtverordneter, mit 30 Landtagsabgeordneter, mit 31 CDU-Generalsekretär, mit 41 Landesminister, mit 46 Regierungschef. Wüst ist Volljurist, war mal bei der Lobbyagentur Eutop und hat nebenberuflich als Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes NRW gearbeitet, doch eigentlich hat er nie etwas anderes gewollt als Politik.

Der ehemals kantige Konservative passt sich an

„Hendrik Wüst hatte immer nur ein Ziel: in der Politik Karriere zu machen. Der hat schon in der Schule erzählt: Ich werde Politiker“, sagte der ehemalige Bürgermeister aus Wüsts Heimatstadt Rhede im Münsterland, Lothar Mittag (Grüne), der „taz“. Der Ministerpräsident werbe mit dem Slogan „Machen, worauf es ankommt“, wisse aber selbst nicht, was das eigentlich sei.

Auch in Wüsts schwarz-gelber Regierungskoalition wird hinter vorgehaltener Hand gelästert, der Chef positioniere sich „grundsätzlich nach Umfrage- und Presselage“. Dabei galt er mal als kantiger Konservativer. Heute kommt er aber eher als Mischung aus dem jungen Christian Wulff und dem netten Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer daher.

Kohleausstieg 2030 – an Wüst, der mal den CDU-Wirtschaftsflügel führte, soll es nicht scheitern. Zwölf Euro Mindestlohn – findet Wüst jetzt auch gut. „Wir schaffen das“ – der einstige Kritiker der Merkelschen Flüchtlingspolitik schlägt im Ukraine-Krieg plötzlich Kanzlerinnen-Töne an. Eine Corona-Impfpflicht – sollte erst unbedingt kommen und ist ihm jetzt nicht mehr so wichtig. „Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein“ – Wüst hat heute ein Herz für Mieter.

Wüst will als „moderner Konservativer“ gesehen werden

Man muss diese Wendigkeit aber als Professionalität übersetzen. Wüst berechnet genau, wo Mehrheiten sind. Selbst Parteifreunde, die nie viel mit ihm anfangen konnten, loben seinen Fleiß und sein Organisationstalent. „Wüst ist unheimlich gereift und hockt schon lange nicht mehr im ideologischen Schützengraben“, sagt einer, der ihn lange kennt.

Wüst startete als Haudrauf in die Berufspolitik. Er war als junger Generalsekretär des damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) der Mann fürs Grobe. Mit Markus Söder gehörte er zur wortflinken Nachwuchsgarde der Union und sorgte mit Vorschlägen für Aufsehen, Arbeitslose sollten auf Spielplätzen Drogenspritzen und Hundekot aufsammeln.

„Jeder Mensch hat zwischen 29 und 47 eine Phase, in der er ein bisschen ruhiger wird, und das hat wahrscheinlich nicht geschadet“, sagt er selbst rückblickend. Heute will Wüst als „moderner Konservativer“ gesehen werden. An seinem AmtsvorgängerArmin Laschet konnte er in Nahaufnahme studieren, dass Überzeugungen, politische Lebensthemen und Authentizität wertlos sind, wenn man sich dem Publikum nicht vermitteln kann.

Wüst kann mit sozialen Medien umgehen

Während der rheinische Bauchmensch Laschet nie akzeptiert hat, dass ein Regierungschef auch Projektionsfläche sein muss, hat sein gewiefter Machterbe Wüst immerzu Oberflächenpolitur zur Hand. Er weiß: In einer kurzatmigen Social-Media-Gesellschaft müssen Botschaften und Bilder sitzen. Öffentlich spricht Wüst automatenhaft in Hauptsätzen, um keinen Interpretationsspielraum zu bieten. Zitate, Anekdoten, Fotos – alles wirkt choreografiert. Selbst sein Privatleben und das späte Vaterglück verbaute er in einer Regierungserklärung.

2010 musste Wüst im Zuge der „Rent a Rüttgers“-Affäre als Generalsekretär zurücktreten. Die CDU-Landesgeschäftsstelle hatte Sponsoren Gespräche mit dem Ministerpräsidenten gegen Geldzuwendungen angeboten. Im selben Jahr starb auch sein Vater, ein Handelsvertreter für Textilmaschinen. Wenn Wüst heute auf sein Risiko angesprochen wird, als Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die NRW-Geschichte einzugehen, nimmt er Bezug auf die damalige Lebenskrise: „Meine Karriere war schon mal zu Ende, das gibt Gelassenheit.“

Thomas Kutschaty: Jurist, Rebell und Arbeiterkind

Um zu verstehen, wer Thomas Kutschaty ist, muss man erst wissen, wer er nicht ist. Der 53-jährige Essener ist keiner, der durch bloße Anwesenheit einen Raum füllt, einen Saal rockt oder ein Marktplatz-Publikum entzückt. Er ist kein „Alphamännchen“-Typ wie Markus Söder, Friedrich Merz, Sigmar Gabriel oder Gerhard Schröder. Kutschaty nähert sich den Wählerinnen und Wählern anders.

Im „Haus des Bürgers“ im ostwestfälischen Hiddenhausen wartet ein vorwiegend älteres Publikum auf den Spitzenkandidaten der SPD. Der Saal ist voll, die Luft etwas dünn. Die Damen und Herren wollen über ihren Wunsch nach bezahlbaren Wohnungen reden, vor allem aber sind sie neugierig auf Thomas Kutschaty, der Ministerpräsident werden möchte.

Der Gast holt zunächst nicht zur großen Rede aus. Er hört zu, wirkt fast scheu. Als er spricht, bemüht er Vokabeln wie „Kommunalisierungsgrad“ und „Grundsockelfinanzierung“, findet aber dann Sätze, die ihn mit seinen Zuhörern auf Augenhöhe bringen. Zum Beispiel: „Sonne und Wind schreiben am Ende des Monats keine Rechnung.“ Oder: „Heimat ist mehr als dicke Bohnen mit Speck.“ Das wirkt. Beschreibungen wie „nett“ und „versteht was“ sind zu hören. Kutschaty sammelt mit seiner Unaufgeregtheit Sympathiepunkte.

Ist Kutschaty offensiv oder defensiv?

Es ist dennoch schwierig, Thomas Kutschaty zu charakterisieren. Gehört er zur „Abteilung Attacke“ oder zum „Team Vorsicht“? Ist er in der SPD eher links oder einer aus der Mitte? Für jede dieser Thesen gibt es Beispiele. Früher ärgerte er im Landtag Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) mit brachialen Sprüchen wie „Sie irren durch die Asche ihrer verbrannten Ideen“. Von dieser Härte ist im Straßenwahlkampf wenig zu sehen. Hier ist er ein Mahner. Eine Lehre aus der Pandemie: „Besser ein Klinikbett zu viel als eines zu wenig.“ Und: „Wir müssen die Gefahr eines Weltkriegs abwenden.“

Aus Kutschatys Umfeld wird kolportiert, der dreifache Familienvater habe sich lange dagegen gesträubt, Privates auf den Präsentierteller zu legen. Inzwischen lädt er sogar Fernsehleute ins Haus ein. Sieben Jahre lang machte Kutschaty in der Regierung von Hannelore Kraft einen unauffälligen Job als Justizminister. Aus dieser Zeit stammt die Bezeichnung „Regierungsnotar“. Dass in dem vermeintlichen Aktenfresser ein Mann mit Mut und Machtinstinkt steckt, hatte damals keiner auf dem Schirm.

Kutschaty pocht auf seine Arbeiterwurzeln

Die Herkunft ist stets ein Schlüssel zum Verständnis, wer ein Mensch ist. „Ich komme aus Borbeck im Essener Norden und stamme aus einer Eisenbahnerfamilie.“ So stellte sich Kutschaty im Februar neben SPD-Chef Lars Klingbeil in Düsseldorf als Spitzenkandidat vor. „Meine Eltern mussten damals sogar heiraten, um die Wohnung zu bekommen. Dachgeschoss, kein Balkon, dafür Kohleofen. Ein Kinderzimmer gab es nicht. Man schlief bei den Eltern mit.“

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Dann sei in der Siedlung eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung freigeworden, 66 Quadratmeter mit Kinderzimmer. „Das war purer Luxus für mich. Da war ich sechs Jahre.“ Kutschaty lebt immer noch in dieser Gegend, zwei Kilometer entfernt. Seine Vita kann einem Sozialdemokraten im Ruhrgebiet zur Ehre gereichen, deshalb eignet sie sich für die Kampagne: Arbeiterwurzeln, der Erste in seiner Familie mit Abitur, Jurastudium, Anwalt, Minister, SPD-Bundesvize.

Doch der Blaumann des Arbeiters steht ihm nicht. Kutschaty ist kein Malocher, er ist durch und durch Jurist, und wenn er redet, dann klingt die Heimat Ruhrgebiet dezent mit. Dann wird der Sport zu „Spoat“ und „Warten“ zu „Waaten“. Kutschatys private Aufstiegsgeschichte aus der Willy-Brandt-Ära spiegelt sich in seiner ur-sozialdemokratischen Botschaft: „Nicht die Postleitzahl, sondern Fleiß und Talent sollen über Bildungschancen von Kindern entscheiden.“

Kutschaty rang seine Konkurrenz nieder

In diesem ruhigen, zur (Selbst-)Ironie neigenden Zuhörer steckt allerdings auch ein Raufbold. Kutschaty stieg gegen erhebliche Widerstände zum Fraktionschef, NRW-SPD-Vorsitzenden und Spitzenkandidaten auf. Die alte Parteielite wollte ihn 2017 partout nicht in Führungspositionen. Kutschaty rang seine Konkurrenz nieder, zuletzt den braven Ex-NRW-SPD-Chef Sebastian Hartmann, denn der stand seinen Ambitionen im Weg.

Als linker „Rebell“ nervte er einst besonders die frühere SPD-Chefin Andrea Nahles. Die Große Koalition im Bund mit der CDU war ihm ein Graus. Doch längst sind Kutschatys Rufe nach dem Bruch mit Gerhard Schröders Agenda-Politik Allgemeingut innerhalb der SPD. Und mit Olaf Scholz, einem Hauptdarsteller der Groko, bildet Kutschaty heute sogar eine Schicksalsgemeinschaft: Auf den Plakaten gehen sie gemeinsam in diese Wahl.