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Bis zu 6000 OpferMissbrauchsstudie sieht Kirche als Täterschützer

Lesezeit 5 Minuten

Münsters Bischof Felix Genn will erst am Freitag zur Missbrauchsstudie Stellung nehmen.

Münster – Was ihn am meisten überrascht hat? Der Historiker Thomas Großbölting bringt es auf den Punkt: „Wie viele doch über die Jahre von den Missbrauchsfällen etwas gewusst haben.“ Das Wissen zog sich über Bischöfe, Personalverantwortliche und christliche Laien bis hin zu Staatsanwälten. Im Auftrag des Bistums Münster hat Großbölting in einem Fünfer-Team mehr als zwei Jahre an einer Studie zu sexuellem Missbrauch gearbeitet. Dabei ging es nicht nur um die Frage, wie viele Fälle es zwischen 1945 und 2020 gab, sondern auch darum, ob die Kirche Mitschuld trägt.

Und ja, das System Kirche sei als Täter aufgetreten, ist Großbölting überzeugt. Der Priester als Kleriker sei in der katholischen Kirche überhöht und quasi als Heiliger dargestellt worden. „Die Gottes- und Nächstenliebe wurde pervertiert“, sagt Großbölting bei der Vorstellung der Studie am Montag. Gerade junge Missbrauchsopfer zwischen 10 bis 14 Jahren, oft Messdiener, kamen gegen das System nicht an. Ihnen wurde nicht geglaubt. Viele waren traumatisiert, sprachen erst nach vielen Jahren.

Fehler im System

Auch im System der Bistumsleitung sehen die Forscher ein massives Problem. Bischöfe sollten Richter, Vorgesetzter und Seelsorger gleichzeitig sein. Das habe fatale Folgen gehabt. Auch die katholische Sexualmoral habe Verbrechen begünstigt. Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer ist offenbar deutlich höher als bisher bekannt. Demnach gab es im Bistum Münster in den 75 Jahren annähernd 200 Kleriker, die sich schuldig machten, und mindestens 610 minderjährige Opfer. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.

Großbölting widersprach zudem der Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Missbrauchsfälle habe es flächendeckend in allen Dekanaten des Bistums gegeben. Viele hätten davon gewusst, so Großbölting. Er sprach von Vertuschung.

Berührungspunkt mit dem Erzbistum Köln: Der Fall Nikolaus A.

Köln, Münster, Essen: Die Verantwortlichen von gleich drei Bistümern haben im Umgang mit dem Missbrauchstäter Nikolaus A. auf ganzer Linie versagt. Erst im Juni 2019 untersagte der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki A. die Ausübung des priesterlichen Dienstes, 2020 wurde er aus dem Klerikerstand entlassen. Noch 2008 hatten der damalige Kölner Generalvikar Dominikus Schwaderlapp und sein Personalchef Stefan Heße von der Überprüfung eines Vorwurfs gegen A. abgesehen, ebenso war es laut dem neuen Gutachten 2005 in Münster. Bewegung kam erst in die Sache, als 2019 beim Bistum Münster ein neuer Hinweis einging.

Jahrzehntelang hatte A. ein Doppelleben geführt und männliche Jugendliche – darunter neben Prostituierten auch Gemeindemitglieder wie etwa Messdiener – sexuell missbraucht. Zweimal wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt, ein weiteres Ermittlungsverfahren wurde 1974 eingestellt. Dennoch wurde A. immer wieder in der Seelsorge auch mit Jugendlichen eingesetzt, obwohl das Erzbistum Köln der Justiz das Gegenteil zugesichert hatte. Das Gutachten aus Münster rekonstruiert auch, wie es 1973 – nach der ersten Haftstrafe – zur Versetzung nach Münster kam: A. war Mitglied der Schönstatt-Bewegung. Ein Schönstatt-Mitbruder hatte bereits vor der Verurteilung wegen A. bei Bischof Heinrich Tenhumberg in Münster angefragt – auch dieser ein maßgeblicher Angehöriger der Schönstatt-Bewegung. Tenhumberg schrieb A. denn auch, „dass weder Köln noch Münster Sie im Stich lassen werden“.

Die Autoren des Gutachtens werfen Tenhumberg und seinem Nachfolger Reinhard Lettmann schwere Verstöße gegen ihre Pflicht zur Verhinderung neuer Delikte durch Missbrauchstäter vor. Das Gercke-Gutachten hatte bereits bei vielen Kölner Verantwortlichen, darunter den Erzbischöfen Joseph Kardinal Höffner und Joachim Kardinal Meisner, Pflichtverstöße festgestellt. (rn)

Nachweisen konnten die Forscher jahrzehntelanges Versagen in der Bistumsleitung und Strafvereitelung in verschiedenen Fällen. Dabei standen die Bischöfe Joseph Höffner (Amtszeit: 1962–1969), Heinrich Tenhumberg (1969–1979) und Reinhard Lettmann (1980–2008) im Mittelpunkt. Immer wieder wurden straffällig gewordene Priester nur versetzt – und wieder zu Tätern. Höffner soll einem Pfarrer, der vor der ihm drohenden Strafverfolgung zunächst nach Brasilien geflohen war, sogar dabei geholfen haben, einen neuen Aufenthaltsort im Erzbistum Salzburg zu finden. Höffner und sein Salzburger Amtsbruder hätten gemeinsame Sache gemacht, um „um einen in Deutschland polizeilich gesuchten mutmaßlichen Sexualstraftäter vor dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden zu schützen“, so das Gutachten. 1969 wechselte Höffner dann zunächst als Koadjutor nach Köln und wurde noch im gleichen Jahr dort Erzbischof. Auch in seiner Kölner Zeit soll er nach Feststellung der dort zuständigen Gutachter immer wieder gegen seine Pflichten bei der Aufklärung von Missbrauchsfällen verstoßen haben. Das Gutachten in Münster legt übrigens die gleichen Pflichten-Kriterien zugrunde wie die Kölner Arbeit der Kanzlei Gercke Wollschläger.

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In Münster setzte sich die Bistumsleitung in manchen Fällen auch bei der Staatsanwaltschaft für die Priester ein. Dem jetzigen Bischof Felix Genn werfen die Forscher vor, als Vorgesetzter gegenüber reuigen Tätern nicht die nötige Strenge gezeigt zu haben. Genn will sich zu der Studie erst am Freitag näher äußern.

Neben der Auswertung der Aktenarchive führten die Wissenschaftler Interviews mit mehr als 60 Betroffenen. Bei der Übergabe des Gutachtens kündigte Genn weitere Konsequenzen an. „Das ist für mich eine Verpflichtung, an der ich mich messen lassen möchte“, sagte der Bischof knapp.

Die Betroffeneninitiative Eckiger Tisch bezeichnete das Ergebnis der Mehrfachtäter (40 Prozent der Beschuldigten) als erschreckend. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) würdigte die Studie aus Münster als entscheidende Ergänzung zu den bisherigen juristischen Gutachten aus anderen Bistümern. (dpa/rn)