Berlin – Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Coup der Union, um Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu ärgern: CDU und CSU nominierten den 63-jährigen Sachsen-Anhaltiner für die Nachfolge von Drosten, der sich vor einigen Wochen genervt aus dem Gremium zurückgezogen hatte. Nun wird der Anti-Lockdown-Virologe mit anderen Experten bis Ende Juni das Corona-Zeugnis für Bund und Länder fertig schreiben, und es dürfte auf die Note „mangelhaft“ hinauslaufen.
Stöhr hat ganz andere Positionen als Lauterbach
Es geht nicht nur um eine Rückschau: Der Befund über Sinn oder Unsinn der massiven Eingriffe der letzten zwei Jahre soll auch Grundlage sein für die künftigen Infektionsschutzmaßnahmen, über die hinter den Kulissen längst hart gerungen wird. Und da hat Stöhr ganz andere Positionen als Lauterbach. Das zeigt sich gerade wieder bei der neuen Mutante BA.5, die in Portugal grassiert: Stöhr sieht darin einen „normalen Effekt“ beim „Auslaufen einer Pandemie“ und wirft dem Gesundheitsminister einmal mehr „Panikmache“ vor, weil der vor BA.5 warnt.
Im vergangenen Herbst, als die Delta-Mutante angriff, da sah zwar auch Stöhr eine „heftige Saison“ auf uns zukommen, forderte aber dennoch Lockerungen bei den wenig Gefährdeten. „Weg mit den Masken an Schulen und im Unterricht!“, sagte er uns Anfang Oktober. „Stattdessen Fokus auf die Impfung der Ab-50-Jährigen!“ Es dauerte dann noch zwei Monate, bis die Booster-Kampagne wirklich in Gang kam. Und die Schüler durften erst vor kurzem die Masken ablegen.
Lauterbach sieht Stöhr nicht als „Top-Virologen“
Unumstritten ist Stöhr natürlich nicht. Lauterbach mokierte sich in einer ZDF-Dokumentation darüber, dass in der Wissenschaft niemand Stöhr als einen „Top-Virologen“ anerkenne, er könne Drosten nicht das Wasser reichen.
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Als Forscher aus der ersten Garde betrachtet sich Stöhr selbst freilich auch nicht. Der Epidemiologe arbeitete 15 Jahre lang für die Weltgesundheitsorganisation WHO. Er geht eher wie ein Top-Manager an die Pandemiebekämpfung: Was genau ist eigentlich das Problem? Und wie lässt es sich lösen? Darum etwa der Widerstand gegen Masken an Schulen: Eine Corona-Infektion helfe Kindern, eine natürlich Immunabwehr aufzubauen, sorge für eine gewisse Herdenimmunität in der Gruppe und bremse die Corona-Ausbreitung in einer späteren kritischen Phase. Das Abschirmen der Kinder „löst keines der Probleme in Vorbereitung der heftigen Wintersaison“, so sein Fazit vergangenen Oktober.
Stöhr sprach sich früh für konzentrierte Maßnahmen aus
Von zentraler Bedeutung sei hingegen das Impfen aller Gefährdeten und von medizinischem und Pflege-Personal. Als einer der ersten erkannte Stöhr schon im Frühsommer 2020, dass sich Corona nur sehr begrenzt bremsen lasse. Und darum müssten sich alle Maßnahmen auf den Schutz der Risikogruppen konzentrieren.
Angela Merkel, Jens Spahn und die Länder machten es anders, schickten das Land ein halbes Jahr lang in den Lockdown. Insofern hat Stöhrs Nominierung eine perfide Pointe, wenn nun alles Lauterbach in die Schuhe geschoben werden soll.
Welchen Einfluss Stöhr auf das Corona-Zeugnis bekommen wird, ist allerdings offen. Abgabetermin ist der 30. Juni.