- Die „Poetica 7“, ursprünglich für 2021 geplant, musste auch in diesem Jahr wegen Corona von Januar auf 2.-7. Mai verschoben werden.
- Mit der Festivalkuratorin Uljana Wolf sprach Hartmut Wilmes über die Kraft der Poesie und die Idee des Programms.
Die Pandemie ist noch nicht überwunden, während wir unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine stehen. Was vermag Poesie in einer aus den Fugen geratenen Welt?
Ich denke, dass Poesie langfristig wirkt. Sie kann nicht zeitaktuell reagieren, aber gerade die von mir eingeladenen Autor/innen setzen sich sehr viel mit Politik auseinander, indem sie auf historische Narrative, Ideologien und auch auf die Lücken der Geschichte hinarbeiten.
Wie beeinflusst der Krieg Sie persönlich?
Wie wir alle bin ich schockiert und in großer Sorge nicht nur um die Ukraine, sondern um unsere Welt. Seit Kriegsbeginn spuken mir zwei Zeilen von Maria Stepanova durch den Kopf: „Komm, sammeln wir diesen Körper gemeinsam ein / (am Kreml den Po, am Stadtrand draußen ein Bein)“
Woher stammen die Zeilen?
Aus dem Band „Der Körper kehrt wieder“. Er spricht eindrucksvoll davon, dass die Knochen, Träume und Traumata aus dem letzten Jahrhundert, von Stalin-Terror und Nazi-Terror, in der Erde liegen und vieles noch nicht zu Ende erinnert wurde. Einerseits hat man das Gefühl, dass die bisherige Arbeit, auch die der Poesie, durch den neuen Krieg zunichte gemacht wurde, gleichzeitig liegt darin die Aufforderung, weiterzumachen, weiterzuschreiben. Obwohl einem vor den Gräueltaten im Ukrainekrieg die Sprache fast versagt.
Zur Person
Die Lyrikerin Uljana Wolf wurde am 6. April 1979 in Berlin geboren und studierte an der dortigen Humboldt-Universität sowie in Krakau Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft.
Mit ihrem Mann, dem amerikanischen Lyriker Christian Hawkey und zwei Töchtern lebt sie in Berlin und New York. Schon 2006 wurde sie für ihren Debütband als Lyrikerin mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet und erhielt danach zahlreiche Auszeichnungen als Autorin wie Übersetzerin. Inzwischen sind ihre Gedichte in mehr als 15 Sprachen erschienen. (Wi.)
Wird die eingeladene russische Autorin Stepanova zum Festival kommen?
Maria Stepanova wird in jedem Fall kommen. Ich bin darüber sehr froh, weil man trotz aller Fassungslosigkeit nicht abrutschen darf in Gruppenschuld und Boykotte. Und Stepanova ist eine sehr widerständige Autorin. Überhaupt freut es mich, dass uns alle ursprünglich eingeladenen Dichter/innen treu geblieben sind.
Eingeladen ist auch die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, deren Werk „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ ein Dokumentarroman über Soldatinnen der Roten Armee ist. Ein Indiz für die größere Durchschlagskraft der Prosa?
So würde ich das nicht sehen. Aber ich habe sie bewusst als Prosaautorin eingeladen, die klassische Gattungen herausfordert mit ihrem „Roman in Stimmen“. Und weil ich glaube, dass die Frage des Dokumentarischen im Gedicht eine andere Resonanz gewinnt, wenn man sie im Zusammenspiel mit anderen Gattungen sieht, mit Prosa, aber auch mit Klangkunst und mit Musik.
Auch die anderen Teilnehmer/innen finden neue Formen, etwa Langgedichte, Zyklen oder ,booklength poems“, in denen Fotos und Akten das lyrische Sprechen ergänzen.
Vielleicht ein Beispiel?
Don Mee Choi, eine amerikanische Autorin südkoreanischer Herkunft, hat Zeugen befragt, die in unmittelbarer Nähe zur DMZ, zur Demilitarisierten Zone leben. Anders als Alexijewitsch hat sie ihr Material aber fast dadaistisch verdichtet.
Der Kölner Böll-Preisträger José Oliver ist im Schwarzwald spanisch-deutsch aufgewachsen und hat sich immer mit Sprachdifferenzen befasst. Da gibt es Ähnlichkeiten mit Ihnen, oder?
Ja, obwohl ich erst als Erwachsene die Sprachwelt gewechselt habe, zuerst in Polen, dann in den USA. Aber ich hatte schon als Kind eine Sehnsucht nach Fremdsprechen, die sich auch literarisch niedergeschlagen hat.
Sie sind ja auch Übersetzerin und haben die Migration der Worte mit jener der Menschen zusammengedacht.
Ja, das Über-Setzen und das Übersetzen, wobei mich gerade das nicht Gelingende daran interessiert, Fehler, Stottern, Stolpern – das alles ist für mich literarisches Material geworden. Wobei es immer darum geht, dass man auch Nichtverstehen zulassen muss. Das gilt auch für die Texte der eingeladenen Dichter/innen, für deren Verständnis man vielleicht etwas recherchieren muss, egal ob es um Privatisierung des Wassers in Chile oder um die politische Situation in Südkorea geht. Das ist eine Einladung, mehr über die Welt zu erfahren.
Das Motto der Poetica 7 heißt „Sounding Archives“. Wie wird ein Gedicht zum Klangarchiv der Geschichte?
Durch das Dokumentarmaterial wird unsere übliche Vorstellung vom Gedicht zunächst ausgebremst. Demgegenüber kann dessen Klang andere Brücken schlagen, zum Klingen bringen, was eben nicht gesagt wurde.
Wie muss man sich das genau vorstellen?
Indem auch das Ungelöste mitschwingt, einen Echoraum erhält. Wir haben mit der belarussischen Autorin Valzhyna Mort noch einen zusätzlichen Gast. Ihr Gedichtband „Musik für die Toten und Auferstandenen“ beschäftigt sich mit den Opfern und den Verschwundenen der Stalin- und Nazi-Zeit in Belarus. Da gibt es Passagen, die wie Gesänge im Gedächtnis immer wiederholt werden. Sie treten an die Stelle dessen, was verschwunden ist.
Das könnte Sie auch interessieren:
Haben Sie als vielfach preisgekrönte Lyrikerin einen Lackmustest für ge- oder misslungene Gedichte?
Das hängt doch sehr von persönlichen Vorlieben ab. Aber wenn ein Gedicht die Sprache zu sehr als Vehikel benutzt oder mit Abziehbildern und Klischees arbeitet, finde ich es schwierig. Es liegt mir auch nicht, wenn ein Gedicht zum Ende noch einmal alles zusammenbindet und zum Konsumieren darbietet. Für mich sind Rhythmus und Klang sehr wichtig, auch die oralen Traditionen der Lyrik, die Nähe zum Zauberspruch oder zum Wiegenlied.
Wenn mein inneres Ohr beim Lesen nicht vibriert, kann ich manchmal mit dem Gedicht wenig anfangen, obwohl es vielleicht gut ist.