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Bluttat Zülpicher Straße„Das war absehbar“ – Gastronomen fühlen sich allein gelassen

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In Gedenken an den getöteten 18-Jährigen sind auf der Zülpicher Straßen Kerzen, Blumen und Fotos des Verstorbenen niedergelegt worden.

Köln – Markus Vogt hat es kommen sehen. So sehr es ihn entsetzt, dass in der Nacht von Freitag auf Samstag ein 18-Jähriger auf der Zülpicher Straße im dem Partygewühl der Feiermeile erstochen wurde, verwundern kann es den Gastronomen aus dem Kwartier Latäng nicht mehr.

„Diese Eskalation war absehbar – und es wird auch nicht die letzte sein“, prophezeit der Inhaber vom „Kwartier“ auf der Zülpicher Straße und dem „Soylent Green“ auf der Kyffhäuserstraße. Über Jahre schon würden er und seine Mitstreiter beobachten, wie das Viertel kippt – nein, besser gesagt, überrollt wird: von einem Gastronomieangebot, für das eigentlich die Ringe stehen.

Mutmaßlicher Täter ist bereits polizeibekannt

Wie die Rundschau aus Polizeikreisen erfahren hat, handelt es sich bei dem inhaftierten 16-Jährigen um einen Intensivstraftäter. Der Jugendliche sei schon mehrfach wegen Diebstählen und Körperverletzung mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Ein Großteil der Verfahren gegen ihn sei aber eingestellt worden, heißt es weiter. Auch die zunächst insgesamt vier Festgenommenen seien polizeibekannt und schon mehrfach straffällig geworden.

Über das Motiv rätseln die Ermittler der Mordkommission weiter. Der 16-Jährige äußere sich nicht zu den Vorwürfen, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Nach derzeitigen Erkenntnissen kannten sich der Tatverdächtige und das Opfer nicht. Sie gerieten auf der Zülpicher Straße in Streit. Dann kam es zu dem tödlichen Angriff – durch einen einzigen Messerstich.

Gemeinsame Agenda für kurzfristige Lösungen

„Meine Gedanken sind bei den Angehörigen, die den Verlust eines geliebten Menschen erlitten haben. Sie haben mein tief empfundenes Mitgefühl“, sagt Stadtdirektorin Andrea Blome. Sie werde sich nun mit allen Akteuren zusammensetzten, um eine gemeinsame Agenda und kurzfristige Lösungen zu erarbeiten. „Die Eskalation von Gewalt überschreitet jegliche Toleranzgrenze“, so Blome.

Die „klassischen Gastronomen“ des Studentenviertels sehen sich indes im Stich gelassen: von Stadt, Polizei, Ordnungsamt und auch von den Hauseigentümern. Die Entwicklung werde ignoriert, gehandelt erst, wenn es eskaliert. „Werden Ladenlokale frei, interessiert sich keiner dafür wer das geeignetste Konzept für das Viertel, sondern nur wer den größten Geldkoffer habe, so Vogt. So hätten Cocktail- und Shisha-Bars Einzug gehalten. „Und ein ganz anderes Publikum angezogen“, sagt der IG-Sprecher. Statt Studenten auf dem Rad rollten immer mehr Poser in getunten Autos über die Zülpicher. Eine Folge: Die Stimmung sei aggressiver geworden.

Vor fatalen Entwicklungen gewarnt

Besonders bitter: „Noch drei Tage vor der Bluttat habe ich einen Brief an die Stadt geschrieben“, berichtet Vogt. Zum wiederholten Male habe er darin die fatale Entwicklung aufgezeigt, zum Handeln aufgefordert und Unterstützung seitens der Gastronomen angeboten. Bisher keine Reaktion.

Intensivstraftäter

140 junge Intensivstraftäter hat die Polizei registriert: 55 Personen im Alter von 18 bis 20 Jahren, 73 im Alter von 14 bis 17 Jahren und zwölf im Alter von 11 bis 13 Jahren. Um in die Datei aufgenommen zu werden, müssen die Personen fünf Taten eines Deliktes in einem Jahr begangen haben.

Polizei, Staatsanwaltschaft und Pädagogen kümmern sich in Abstimmung gemeinsam um die Klientel. Seit mehreren Jahren werden Minderjährige in dem Projekt „Kurve kriegen“ betreut. Es geht darum, dass die jungen Straftäter den Absprung schaffen. (ta)

„Auf uns hört ja keiner“, sagt dazu Alexander Moll, Inhaber der „Filmdose“ auf der Zülpicher. „Wenn wir auf die Missstände hinweisen, heißt es von der Stadt nur: Das sehen Sie zu statisch, zu subjektiv.“ Moll wird deutlich: „Die Stadt lässt uns hängen, sie regelt nichts, lässt alles laufen.“ So seien „rechtsfreie Räume“ entstanden.

Immer mehr Feiernde

Und diese Räume wachsen. „Ich habe vergangenen Dienstag Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Stadtdirektorin Andrea Blome eine Liste von 108 Unterschriften per Einschreiben zukommen lassen“, sagt ein Anwohner vom westlichen Teil der Zülpicher, oberhalb der Bahnbrücke. Einst gehörte dieser Abschnitt nicht zur Feiermeile. Doch dann sei das westliche Ende für den Autoverkehr gesperrt worden – und Corona kam: „Seit April vergangenen Jahres sind es immer mehr Feierende geworden“, berichtet der Anwohner.

Mit Ende des Lockdowns laufe die Entwicklung vollends aus dem Ruder: „300 bis 700 Menschen. Bis morgens um 9 Uhr. Zehn Nächte hintereinander. Die Musik aus den tragbaren Boxen höre ich mit dem Bauch.“ Das Ordnungsamt?

Kommt die Polizei gegen die Massen nicht an?

„Wenn ich da anrufe, hänge ich eine Stunde in der Warteschleife und kriege dann gesagt, sie hätten nur 18 Leute für die gesamte Innenstadt.“ Die Polizei? „Sie könnten zwei Beamte schicken, damit aber gegen diese Masse nichts ausrichten.“ Auf seine Unterschriftenliste habe er bisher keine Antwort erhalten.

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Und Lösungen? Der Anwohner fordert eine „mobile Polizeiwache“. Die Gastronomen wollen keinen ordnungspolitischen „Dampfhammer“. Lieber „ein gemeinsames Konzept“.

Kommentar: Jens Meifert zur Zülpicher Straße

Grenzen setzen

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Jens Meifert

Die Bluttat von der Zülpicher Straße ist schockierend. Ein 16-Jähriger, fast noch ein Kind, sticht mutmaßlich mit dem Messer zu, ein junger Mann stirbt. Mitten in Köln, auf einer Straße, die für Party steht und für gute Laune ohne Grenzen.

Die Stadt hat zunehmend ein Problem mit Gewalt in den Partyzonen der City, auf offener Straße. Auf den Ringen und am Ebertplatz haben Stadt und Polizei die Lage mit enormem Aufwand verbessert. Mit Videokontrollen, Präsenz an Wochenendnächten und sozialen Projekten. Die traurige Lehre: Das wird auch auf der Zülpicher Straße notwendig sein. Die Corona-Lage und die geschlossenen Clubs haben die Situation verschärft. Die Stadt hat die Straße zu lange sich selbst überlassen, die Anwohner nicht mehr gehört. Doch ohne Grenzen geht es nicht.

koeln@kr-redaktion.de