Köln – Übrig geblieben sind viele Erinnerungen und ein hölzernes Puppenhaus. Braun ist der Miniatur-Teppichboden, an den Wänden stehen Miniatur-Schränke, Mittelpunkt des einzigen Zimmers ist ein Miniatur-Schreibtisch. Was wie ein niedliches Kinderspielzeug anmutet, ist in Wirklichkeit die Nachbildung eines Tatorts. Das Haus steht gut verpackt in der Asservatenkammer der Kölner Staatsanwaltschaft. Ein Zettel mit einer Nummer weist das kleine Haus einem der größten Fälle der Kölner Kriminalgeschichte zu – der Entführung der Bankierstochter Nina von Gallwitz. Auch nach 40 Jahren hat sich daran nichts geändert.
Polizei stand heftig in der Kritik
Selten hat ein Fall für heftigere Kratzer am Image der Polizei gesorgt. Als die kleine Nina nach 149 Tagen Martyrium mit einer Mullbinde vor den Augen auf der Autobahn 3 nahe der Raststätte Ohligser Heide abgesetzt wird, offenbaren sich tiefe Zerwürfnisse innerhalb der Ermittlungsbehörde. „Der wäre besser Pastor geworden“, spottet Kripochef Manfred Gundlach über die zurückhaltende Taktik des Leiters der „Soko Gallwitz“, Herbert Mertens. Heute stellt Kölns Kripochef Klaus-Stephan Becker fest: „Heute ist Polizeiarbeit nicht mehr mit der Polizeiarbeit von damals zu vergleichen. Entscheidend war die Einrichtung Ständiger Stäbe bei Großbehörden, die auf Szenarien wie zum Beispiel Entführungen vorbereitet sind und jederzeit solche Lagen übernehmen können. Auslöser dafür war das Geiseldrama von Gladbeck“, sagt er. Dies ereignete sich nochmal sieben Jahre später, im Sommer 1988.
Nina von Gallwitz wird am 18. Dezember 1981 auf dem Weg zur Grüngürtelschule in Hahnwald von den Entführern in ein Auto gezerrt. Es ist der Beginn einer mehr als fünf Monate dauernden Nervenschlacht zwischen Polizei und Kidnappern, einer Serie abgebrochener Geldübergaben, die nahezu eine Verdopplung des Lösegelds nach sich zieht. Zugleich ist es die Geschichte gescheiterter Polizeiarbeit, denn die Eltern des Kindes vertrauten sich in ihrer Not zwei privaten Vermittlern an: dem Journalisten Franz Tartarotti aus Südtirol und dem einstigen BKA-Kriminaldirektor Hans Fernstätt. Tartarotti hatte ein Jahr zuvor bereits bei der Entführung der beiden Töchter des Fernsehjournalisten Dieter Kronzucker erfolgreich vermittelt.
Der 12. Mai 1982 ist ein Mittwoch, Franz Tartarotti sitzt im letzten Waggon des Nachtzugs D 209 von Dortmund nach Basel. Neben ihm liegt eine selbstgenähte Tasche aus Markisenstoff, darin 1,5 Millionen Mark, in der Hand hält er ein Funkgerät. Um 0.38 Uhr vernimmt er endlich ein Rauschen aus seinen Kopfhörern, er öffnet das Gangfenster und schleudert kurz vor Andernach die Tasche gegen eine Böschungswand und sieht, wie sie zwischen Wand und Gleisen in einer Vertiefung landet. Kurz darauf hört er ein Piepsignal, es bedeutet: „Tasche und Abwurfstelle gesehen“. Drei Tage später lassen die Entführer die Bankierstochter an der A3 frei. Nach 149 Tagen Martyrium und Ungewissheit. Zu diesem Zeitpunkt ist es der längste Entführungsfall in Deutschland.
Der Fall ist gespickt mit Kuriositäten. Am Mittag nach der Entführung melden sich die Entführer bei den Eltern. Statt eine Lösegeldforderung zu stellen, fragen sie, was ihnen das Leben ihrer Tochter wert ist. Bankprokurist Hubertus von Gallwitz bietet 800 000 Euro an, die Täter sind einverstanden, verbieten aber das Einschalten der Polizei. Doch die ist bereits informiert und gründet die „Soko Gallwitz“, die im Laufe des Entführungsfalls auf 65 Beamte aufgestockt wird.
Für Heiligabend 1981 wird die erste Geldübergabe vereinbart. Ninas Vater steigt in einen Zug, doch ihm folgen 100 Zivilbeamte – die Täter ziehen sich zurück. Einen Tag vor Silvester soll das Geld von einem „privat gecharterten Zwei-Mann-Hubschrauber“ abgeworfen werden. Doch statt dessen steigt ein Helikopter des Bundesgrenzschutzes auf, wieder werden die Entführer misstrauisch. Beim dritten Versuch verspätet sich der Hubschrauber um 50 Minuten, weil die Polizei noch auf zwei mit Infrarotkameras ausgestattete „Phantom“-Jets der Bundeswehr warten muss. Entnervt lassen die Täter wissen: „Wir haben kein Vertrauen mehr.“ Im Interview mit dem „Spiegel“ konstatiert Tartarotti später: „Die einen Kräfte, allen voran der Kripo-Chef, hatten wohl mehr im Sinn, sich einen Lorbeerkranz für die Ergreifung der Täter flechten zu lassen.“
Schweigemarsch zur Schwarzen Muttergottes
Der Entführungsfall fesselt über Monate die Menschen in der Stadt und der ganzen Republik. Im März 1982 pilgern rund 500 Menschen schweigend von Rodenkirchen aus am Rheinufer entlang Richtung Innenstadt – ihr Ziel ist die Schwarze Muttergottes. Sie beten und zünden Kerzen für das Mädchen an.
Zu diesem Zeitpunkt bemühen sich Fernstätt und Tartarotti bereits um die Freilassung des Kindes. Ob Nina überhaupt noch lebt, weiß jedoch niemand. Die Vermittler kommunizieren über die Tageszeitungen mit den Entführern. In den Kleinanzeigen erscheinen mysteriöse Zahlencodes. Am 6. April erhalten Fernstätt und Tartarotti die verschlüsselte Nachricht „Alles oder nichts“. Ihre Antwort: „Nachricht sauber angekommen. Codesatz verstanden – danke.“ Später wird bekannt, dass die Polizei wochenlang Tartarotti beschattet und auch sein Telefon abhört. Dann steigt er in den Nachtzug nach Basel und wirft das Geld aus dem Fenster.
Sechs Jahre nach Ninas Freilassung nimmt der Fall nochmals Fahrt auf. Einen Verdächtigen aus Neuwied setzt die Polizei mit einer gewagten Finte unter Druck. Sie zapft sein Telefon an, dann schickt sie ihm einen fingierten Entführerbrief, geschrieben mit jener Schriftschablone, die auch die Entführer nutzten. Doch der Mann meldet sich verschreckt bei der Polizei, die sich für die Aktion entschuldigt und erneut heftige Kritik einstecken muss.
Die Tat ist längst verjährt. Die Entführer von Nina wurden nie gefasst. Allerdings erhielt Franz Tartarotti, der bei Bonn lebt, nach der Verjährung einen anonymen Brief, in dem der Name eines Täters gestanden haben soll. Wer es ist, verrät er nicht.
Nina von Gallwitz will nicht mehr über die Tat sprechen. Sie lebt heute in Berlin.