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Birlikte in KölnBundespräsident kommt zum 20. Jahrestag des NSU-Anschlags in die Keupstraße

Lesezeit 5 Minuten
Gemeinsames Erinnern: Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs (v.r.), Henriette Reker, Meral Sahin, Stefan Bachmann, Serpil Güner (interKultur e.V.), Muhamet Ayagül (Betroffener) und Bengü Kocatürk-Schuster (Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle).

Gemeinsames Erinnern: Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs (v.r.), Henriette Reker, Meral Sahin, Stefan Bachmann, Serpil Güner (interKultur e.V.), Muhamet Ayagül (Betroffener) und Bengü Kocatürk-Schuster (Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle).

Mit umfangreichem Programm erinnert das Kulturfest Birlikte an den Nagelbombenanschlag 2004 - der Schmerz der Betroffenen sitzt noch tief.

Neben der Trauer steckt auch eine ordentliche Portion Wut in der tränenerstickten Stimme einer älteren Dame mit geblümtem Kleid und Kopftuch. Sie spricht zwar auch Deutsch, aber das, was ihr schon lange auf dem Herzen liegt, dringt in türkischer Sprache aus ihr heraus. „Warum seid ihr nicht an unserer Seite, wenn wir euch brauchen?“, möchte sie wissen. Von „Lippenbekenntnissen“ der Stadt spricht sie und ergänzt: „Wir wollen nicht nur an Jahrestagen unterstützt werden, wir haben sehr viele Sorgen.“ Ihr Blick ist gesenkt, doch ihr Körper ist nach vorne gerichtet, zur Bühne, auf der ihr unter anderem Oberbürgermeisterin Henriette Reker zuhört.

Am 9. Juni ist der Nagelbombenanschlag der rechtsextremistischen Terrorgruppe NSU 20 Jahre her, doch zuweilen scheint es, als seien die Themen und Sorgen von einst aktueller denn je. „Es ist tragisch zu sehen, dass die Wunden noch immer sehr tief sitzen. Birlikte ist eine große Leistung und der Versuch, Gedenken und Zukunftsperspektive unter einen Hut zu bringen“, sagt Kölns Schauspielintendant Stefan Bachmann, der den Anschlag schon vor zehn Jahren in dem Stück „Die Lücke“ inszenierte, das seitdem permanent zum Programm gehört und auch am Vorabend des 9. Juni im Depot 2 des Schauspiels aufgeführt wird.

Auch NRW-Ministerpräsident Wüst kommt auf die Keupstraße

Dass die Polizei damals vor allem im Umfeld der Keupstraße nach den Tätern des Anschlags suchte, hatte für extreme Verunsicherung im stark türkisch geprägten Umfeld der Mülheimer Geschäftsstraße geführt. „Die Ermittlungen haben tiefe Wunden hinterlassen, den Betroffenen wurde vermittelt, sie könnten Täter sein“, erinnert Reker. Nun werden am 9. Juni, dem Tag der Europawahl, auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in die Keupstraße kommen, um ihre Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen. Die genauen Uhrzeiten der Auftritte stehen noch nicht fest.

Als vor zehn Jahren ebenfalls mit einem großen „Birlikte“-Fest an den Anschlag erinnert wurde, bei dem 22 Menschen zum Teil schwer verletzt worden waren, bildete ein Konzert mit Künstlern wie Peter Maffay und Udo Lindenberg den Höhepunkt – deren Auftritte waren schließlich wegen eines schweren Unwetters ins Wasser gefallen. „Vor zehn Jahren sind Betroffene nicht so zu Wort gekommen wie es wünschenswert gewesen wäre“, stellt die Oberbürgermeisterin in der Rückschau fest. Und das soll sich dieses Mal ändern, denn zum umfangreichen Programm (siehe Infotext) gehören auch Lesungen und Diskussionsrunden mit Betroffenen. Schauplätze sind unter anderem der Carlsgarten, der Club Volta, der Genovevahof und das Foyer des Schauspiels.

Nach 20 Jahren soll am 9. Juni erstmals das virtuelle Mahnmal zum Gedenken an die Anschläge in der Keupstraße sowie der Probsteigasse vorgestellt werden – beide Attentate waren von dem NSU verübt worden. Reker hätte am liebsten längst Vollzug gemeldet, doch weil das Mahnmal auf Wunsch der Betroffenen auf einem privaten Grundstück an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße entstehen soll, zogen sich die Verhandlungen mit dem Eigentümer hin. Nun kümmert sich ein Kuratorium, zudem auch die Oberbürgermeisterin gehört, um die Angelegenheit. Es sollen erstmals Filmsequenzen und Inhalte präsentiert werden. „Das Denkmal soll in die Zukunft wirken. Vielleicht wird es zu einem Ort, den sich Schulklassen aus ganz Deutschland anschauen werden“, hofft Reker.

Birlikte in Köln: „Dinnerperformance“ des Schauspiels

Nicht nur das Mahnmal soll ein Lernort im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden. Im Grunde ist dies auch der Kerngedanke von „Birlikte“, was übersetzt „gemeinsam“ oder „zusammen“ bedeutet. „Die Vorbereitung des Gedenktags hat gezeigt, dass die Arbeit von guter Energie geprägt ist. Aber sie ist nicht unkompliziert“, stellt Bachmann fest, der im Sommer nach Wien wechselt. „Der 9. Juni soll als klare Positionierung gegen rechts gelesen werden“, sagt er und gibt am europäischen Wahltag die Parole aus: „Erst wählen gehen, dann zu Birlikte.“

Das Gedenken an die rechtsextreme Tat vor 20 Jahren wird bereits am Nachmittag des 8. Juni mit einer „Dinnerperformance“ des Schauspiels unter dem Stichwort „Gemeinsam Essen“ eröffnet. „Es geht um Gemeinschaft und um die Betroffenen“, betont Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße. Auch nach 20 Jahren müssten die Ereignisse wieder ins Gedächtnis gerufen werden, weil Kinder und Jugendliche zum Zeitpunkt des Attentats noch nicht auf der Welt waren. „Es ist ein Tag, an dem gelernt werden kann, was die Betroffenen bitter gefühlt haben“, sagt Henriette Reker.

Den Eindruck, dass die Thematik und das Schicksal der Menschen nur zu Gedenktagen im Gedächtnis auftauche, teilt sie allerdings nicht. Voriges Jahr ehrte sie die Schriftstellerin Kathrin Röggla für ihr Werk „Laufendes Verfahren“ mit dem Heinrich-Böll-Preis. Der Inhalt: der Anschlag in der Keupstraße.


Birlikte: Das Programm

5 Bühnen werden am 9. Juni bei „ Birlikte Gedenken & Kulturfest“ in Mülheim aufgebaut. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Schauplätze, an denen Programmpunkte geboten werden, beispielsweise Lesungen und Diskussionsveranstaltungen in Cafés und Hinterhöfen. In der Keupstraße steht eine „Open-Air-Bühne“, das Programm startet um 12 Uhr mit dem interkulturellen Chor und einem interreligiösen Gebet des Rats der Kulturen. Um 13.40 Uhr folgen Interviews mit Betroffenen des Anschlags am 9. Juni 2004. Die Moderation übernehmen Ebrar Ekinici und Sibel Schick.

Auf der Bühne in der Schanzenstraße geht es musikalisch zu. Um 14 Uhr singt der Jugendchor St. Stephan, um 16.30 Uhr folgen Kasalla und Eko Fresh und singen „Jröne Papajeie“, um 17.30 Uhr gibt es einen Wortbeitrag vom Ensemble der Stunksitzung mit Biggi Wanninger, Ozan Akhan und Didi Jünemann, es musizieren die Bläck Fööss. Um 18.30 Uhr spielt Ata Canani, später folgt Caroline Kebekus mit den Beer Bitches. Um 19.30 Uhr treten die Kabarettisten Jürgen Becker & Wilfried Schmickler auf. Am Abend spielt Brings.

Auf der Hinterhofbühne in der Keupstraße 52/54 gibt es ab 12 Uhr türkische Pop-Folklore, ab 13 Uhr folgt dokumentarisches Theater. Eine offene Bühne befindet sich in der Keupstraße 66, hier dürfen Instrumente mitgebracht und gesungen werden. Eine Open-Air-Bühne steht zudem an der Ecke Keupstraße/ Bergisch Gladbacher Straße.