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Kölner Karnevals-UrgesteineWas Biggi Fahnenschreiber und Ludwig Sebus in fast 100 Jahren gesund hielt

Lesezeit 8 Minuten
Brigitte "Biggi" Fahnenschreiber mit Ludwig Sebus, Krätzchensänger, Komponist und Textdichter

Ein Tänzchen in Ehren: Biggi Fahnenschreiber und Ludwig Sebus

Biggi Fahnenschreiber ist die Mutter der Mariechen, Ludwig Sebus ist einer der berühmtesten Kölner Krätzchensänger und Textdichter. Sie ist fast 94, er 99. Was die Kölner Karnevals-Urgesteine, die sich seit Jahrzehnten kennen und schätzen, in fast 100 Jahre gesund hielt.

Es ist ein nicht enden wollendes Umarmen, Berühren, Küsschen geben – der sonnige Raum der Cafeteria im Vincenzhaus am Kölner Rheinufer wird geflutet mit Herzenswärme und strahlenden Blicken. Hier treffen sich zwei, die sich seit Jahrzehnten kennen und immer wieder begegnet sind. Und doch wohnt diesem Wiedersehen ein spürbarer, melancholischer Zauber inne, denn Biggi Fahnenschreiber ist fast 94 (am 27.4.) und Ludwig Sebus zählt 99 Jahre: zwei Kölner Karnevals-Urgesteine, bekannt wie bunte Hunde – und doch die letzten ihrer Art.

„Wie jeht et dir? Dir jeht et jut. Mir jet et“, scherzt Ludwig Sebus und lacht sein immer noch so ansteckendes Lachen, das ihn als Sänger auf den Karnevalsbühnen so unverwechselbar gemacht hat. Er ist auf einen Stock gestützt und wirkt doch aufrecht und für sein Alter ziemlich sicher auf den Beinen. Biggi Fahnenschreiber, Balletttänzerin und Tanztrainerin der alten Schule und für die Kölner die „Mutter der Mariechen“ bewegt sich grazil und anmutig mit ausgebreiteten Armen um ihn herum. Sie scheint erleichtert, ihn so munter zu sehen, nachdem er vor einigen Wochen gestürzt war und einen Teil der vergangenen Session nicht live miterleben konnte.

„Ist alles gut verheilt?“ fragt sie und streichelt zärtlich seine Wange. Er nickt und als er den Rundschau-Fotografen sieht, lenkt er schnell ab: „Wollen wir ein Tänzchen fürs Foto machen?“ Gesagt, getan. Die Bühne ruft, die beiden sind in ihrem Element.

Biggi Fahnenschreiber gibt Ludwig Sebus ein Küsschen.

Sie kennen und sie schätzen sich: Biggi Fahnenschreiber und Ludwig Sebus

Das Gipfeltreffen, bei dem fast 200 Jahre zusammen kommen, steht unter der Frage: Wie haben sie es geschafft, über eine so lange Zeit gesund und fit zu bleiben? Die „Sprechstunde“ der etwas anderen Art kann beginnen, wenngleich, das sei vorweg verraten, ein gewisses Abschweifen, Texte rezitieren, Lieder anstimmen und in alten Zeiten schwelgen dazu gehört. Die Rezepte der beiden sind durchaus unterschiedlich. „Ich habe nie übermäßig Sport getrieben“, erzählt Sebus. 100 Meter und Weitsprung habe er als junger Mann mal gemacht, ansonsten war Schwimmen seine Disziplin. Seine Erinnerungen treiben ihn an die italienische Adria. Da war er im Sommer in den 1980er Jahren immer frühmorgens im Meer – vor der Arbeit, die er in der karnevalsfreien Zeit bei einem lokalen Radio-Sender angenommen hatte.

Für Biggi Fahnenschreiber ist Bewegung alles – seit ihrer Kindheit kennt sie es nicht anders. Vor die Wahl gestellt, Ballettunterricht oder Abitur machen – entschied sie sich für ersteres und erfüllte sich mit dem Tanzen ihren Traum, tanzte an der ersten Kölner Oper nach dem Krieg, feierte mit ihrem Tanzpartner und engen Freund Peter Schnitzler in den 1950er und 1960er Jahren große Bühnenerfolge. Ihr hohes Alter verdanke sie zu 50 Prozent dem lebenslangen Training, schätzt sie. Immer noch spaziert sie täglich und macht, wenn das Wetter es zulässt, auch draußen ihre Dehnübungen. „Hinter der Zoobrücke habe ich meine Ballettstange“, erzählt sie und zeigt auf ihrem Handy stolz ein Foto aus der vergangenen Woche. Gestrecktes Bein, gestreckter Arm – Ballettübung im Freien. Tausende Tanzmariechen und Tanzoffiziere der rheinischen Karnevalsgesellschaften sind durch ihre harte Schule gegangen. „Ich habe sie nicht gezählt. Aber der Heumarkt dürfte nicht reichen, um alle aufzustellen“, lächelt sie.

Im Alter ist die Einsamkeit die größte Krankheit."
Biggi Fahnenschreiber

Immer noch trainiert sie das Kölner Dreigestirn, damit das auch tänzerisch auf der Höhe der Zeit ist. In einem Wandschrank in ihrer Wohnung hat sie aus all den Jahren Hunderte Kassetten – ja es sind noch Kassetten! – und CDs, die sie für ihre Tanzübungen braucht. Davon profitieren auch die Bewohnerinnen und Bewohner im Vincenzhaus, in dem Fahnenschreiber einmal in der Woche musische Gymnastik gibt. Und dabei nicht müde wird, ihr Gesundheitsmotto zu wiederholen: „Die Musik ist mein Partner!“ Und schon formt sie wieder ballerinnenhaft Halbkreise vor ihrem Körper. Das Wichtigste neben der korrekten Haltung sei – nebenbei bemerkt – das richtige Atmen. Und natürlich auch gesundheitsfördernd, davon ist Fahnenschreiber überzeugt. Durch die Nase, tief in den Brustkorb, Finger zur Unterstützung in den Nabel legen und langsam wieder ausatmen. „Bei Sorgen hilft es, beim Atmen bis zwanzig zu zählen“, ist sie sicher. „Dann konzentriert man sich auf die Zahlen und die Probleme werden kleiner.“

Geselligkeit als Gesundbrunnen

Die kleinen Übungen, Ständchen und Tänzchen am Flügel, der in der Cafeteria steht, das angeregte Gespräch – all das bleibt im Vincenzhaus nicht lange verborgen. Zwei Bewohnerinnen fassen sich ein Herz und kommen an den Tisch. „Ich hab's mir doch gedacht“, freut sich die eine. „Das sind doch die Biggi und der Ludwig Sebus!“ Sofort gibt es ein fröhliches Hallo, denn wie sich herausstellt, kennt auch Sebus die Bewohnerin. „Du warst doch im Stadtrat und bei den katholischen Frauen“, ruft er freudig. Und die Genannte ist selig, dass er ihren Tag im Seniorenheim versüßt. Du fehlst noch hier im Haus!“, jauchzt sie.

Für den 99-Jährigen, der von der Bekannten für jugendliche 90 gehalten wird, sind solche Begegnungen ein Stück Gesundbrunnen. „Das macht mich glücklich, wenn ich unter Menschen bin. Es muss nicht das große Podium sein.“ Fahnenschreiber kann ihm da nur beipflichten. „Im Alter ist die Einsamkeit die größte Krankheit.“ Deshalb genießt auch sie, dass sie im Vincenzhaus einen regelmäßigen Essens-Stammtisch hat, dass es noch guten Austausch und Gespräche gibt. Das gibt Halt und Rhythmus – unerlässlich für die Gesundheit und ein langes Leben, finden beide.

Beim Essen selbst sind sie gnädig: Der Appetit ist nicht mehr so groß, es darf aber gerne mal ein Eis und Stachelbeertorte mit Sahne sein. Ansonsten: Viel Gemüse, für Sebus gerne mal Riefkooche, Spargel lieben beide. Und Alkohol? Mal ein Kölsch oder ein Gläschen Wein, da sagt Sebus nicht Nein. Fahnenschreiber hat davon zeit ihres Lebens die Finger gelassen. „Das ging nicht als Tänzerin.“ Doch wenn sie es sich genau überlegt ... „Vielleicht fange ich noch mal damit an, dann kann ich vielleicht besser einschlafen.“

Beide haben in ihren beruflich aktiven Jahren viel zu wenig Schlaf bekommen. Ein Gesundheitsrisiko? Das kann Sebus so nicht feststellen. Er erinnert sich an Sessionen mit 250 Auftritten. „Und dann bin ich nachts noch nach Mannheim gefahren, weil ich dort als Regionalverkaufsleiter für Landmaschinen arbeiten musste.“ Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Wenig Schlaf, aber umso mehr Freud auf der Bühne. „Meine Frau hat mir den Rücken frei gehalten, sie musste auf Vieles verzichten“, räumt er ein. Lilo Sebus starb mit 94 vor sechs Jahren.

Manchmal wache ich morgens auf und denke: Bist du in Kölle oder bist du schon im Himmel?
Ludwig Sebus

„Man darf nicht damit rechnen, dass es im Alter einfacher wird“, sagt Sebus. „Man darf nicht pingelig sein!“ Seine wichtigste Regel aber bezieht sich wieder auf das Miteinander: „Im Alter im Unfrieden zu leben, das macht krank!“ Heute lebt Sebus mit der Gefährtin Inge Hellwig, die auch schon seine Frau in den letzten Jahren betreut hat, in Ossendorf in einer Wohnung. „Ich habe eine normalen Tagesablauf“, erzählt er. „Ich schlafe, wenn es geht, bis neun, dann bekomme ich die Beine gewickelt wegen der Thrombosegefahr, dann mache ich mich fertig fürs Frühstück. Ich telefoniere und lese jeden Morgen die Zeitungen. Das ist ja wichtig!“ Sich über die Politik zu informieren, ist für ihn auch geistiges Training. Selbst wenn ihn die Weltlage eher bekümmert. „Es dürfen auf keinen Fall die extremen Parteien an die Macht kommen“, mahnt er.

Durch den Krieg geprägt

Er schaut die langjährige Karnevalsfreundin nachdenklich an. Zwei Überlebende, deren Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs in ihrer Heimatstadt bis heute schmerzen. Bei diesem Thema liegt vor allem Fahnenschreiber das Herz auf der Zunge. Sie war acht, als der Krieg ausbrach, sie war gerade dreizehn, als die Royal Air Force ihren ersten so genannten 1000-Bomber-Angriff auf Köln flog. Der Vater in Norwegen, sie mit ihrer Mutter in den Trümmern der Stadt, am Ende alles verloren – ein Trauma, das ein ganzes Leben geprägt hat. „Nein, jung sein möchte ich nicht mehr, wenn ich noch mal in der gleichen Zeit erwachsen werden müsste! Nein!“

Für Sebus, der 1943 eingezogen wurde und in russische Gefangenschaft geriet, aus der er 1949 nach Köln zurückkehrte, gilt das ohnehin. „Das schlimmste war das Verschüttetsein und der Geruch der verkohlten Leichen“, erinnert er sich. Aus den Kriegserfahrungen wuchs der Wille für den Wiederaufbau und der Glaube an die Kraft des Humors und der Gemeinschaft. „Es war ja ein Glücksfall, dass wir überlebt haben“, sagt Fahnenschreiber. Dass beide auch durch ihre Aufgaben im Karneval und die Begegnungen mit Jüngeren jung geblieben sind, lässt sich schwerlich beweisen. Dass ihnen die Wertschätzung gut tut, dürfte aber unbestritten sein. Ob kölsche Bands wie Kasalla, die zuletzt mit Sebus noch das Engel-Lied einspielten, in dessen Video auch Fahnenschreiber mittanzt, oder die vielen Mariechen, Tanzoffiziere und Dreigestirne, die ihre großen Auftritte der Grand Dame des Tanzens verdankten – all das halte die Lebensfreude stabil, wie Fahnenschreiber es formuliert.

Für Sebus, immer noch Charmeur alter Schule, bleibt „die Biggi“, die eigentlich Brigitte heißt, ein Star: „Ich seh sie immer noch als Ballettgöttin“, flirtet er. Und die Angesprochene streichelt gerührt seine Hand und winkt lächelnd ab. „Ach, Ludwig!“ Am Ende sind sich beide einig: Gesundheitsrezepte hin oder her: Lachen, sich nicht unterkriegen lassen, nicht zu ernst nehmen, freundlich und dankbar sein, darauf kommt es an. Oder, wie Sebus es formuliert: „Ich zähle nicht meine Geburtstage, ich zähle die Momente.“ Am 5. September wird er 100 – so Gott will.

Doch auch da ist er uneitel und demütig. „Manchmal wache ich morgens auf und denke: Bist du in Kölle oder bist du schon im Himmel?“ Fahnenschreiber, die auch Mitglied im Ludwig-Sebus-Fan-Club ist, schaut ihn liebevoll an: „Alles gut so. Wir zwei sind noch da!“ Dann begleitet sie ihn zur Tür, wo ein Taxi auf ihn wartet. Weil doch alles anstrengend war, legt sie seine Hand auf seine Brust, beruhigt ihn, als er nach Luft schnappt. „Ganz langsam, ruhig atmen, Ludwig!“ Er strahlt wieder und winkt zum Abschied fröhlich aus dem Auto. „Danke für den schönen Nachmittag! Sie antwortet: „Bis zum nächsten Mal!“ Sie wird alles dafür tun, dass er mindestens 100 wird.